Eisblut
Maybach hatte so gut wie nichts mit ihrer
Tochter gemein. Sie war klein, das dünne Haar hellblond gefärbt, an den Hüften
leicht rundlich und plapperte wie ein Wasserfall. Anna in ihrer groÃen, schlanken
Drahtigkeit und den dichten, dunklen Haaren war komplett nach dem Vater
geraten, der wie ein Patriarch über der Tafel thronte und der verbalen
Inkontinenz seiner Frau nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte.
Stattdessen beobachtete er mit dunkelgrünen, durchdringenden Augen Anna und
Christian, als könne er durch seinen bloÃen Blick erkennen, welche Bande
zwischen den beiden bestanden und wie belastbar sie waren.
»Walter, starr bitte Christian nicht so an«, wies Anna ihren Vater
schlieÃlich zurecht. »Das ist unhöflich und peinlich. Oder bist du
eifersüchtig, weil du fürchtest, es gibt einen Gott neben dir am Tisch?«
Christian wurde noch unbehaglicher zumute. Er wusste um das
schwierige Verhältnis von Anna zu ihrem Vater, und er verspürte keine Lust, zwischen
die Fronten zu geraten. Annas spitze Zunge kannte er zur Genüge, und Walter
Maybach wirkte nicht wie ein Mann, der Scharmützeln aus dem Weg ging.
»Stimmt. Seit deine Mutter ihr Heil in der Esoterik sucht, wird in
unserem bescheidenen Haushalt das Sakrale aufs Entsetzlichste profanisiert.
Eine blasphemische Anbetung von Seiten meiner Tochter würde mir wirklich
guttun.« Walter hob abwehrend die Hände. »Aber ich weiÃ, ich habe sie nicht
verdient. Weder die Anbetung noch die Tochter.« Er wandte sich an Christian:
»Womit haben Sie sie verdient? Meine einzigartige Tochter und ihre Anbetung.«
Bevor Christian antworten konnte, fuhr Anna dazwischen: »Männer sind
keine Götter, bestenfalls Götzen, und ich bin Atheistin. Liebe bekommt man
geschenkt. Nur Respekt muss man sich verdienen.«
Christian verstand endlich, wie es lief. Die Mutter und er, wie
vermutlich jeder andere, der in den Maybachschen Haushalt geriet, waren
Tennisbälle für Vater und Tochter, die sie sich gegenseitig hart servierten.
»Hört sofort auf, ihr zwei«, verlangte Evelyn mit einem
entschuldigenden Lächeln Richtung Christian.
Walter wollte etwas erwidern, besann sich aber eines Besseren und
nahm einen Schluck von seinem WeiÃwein, nachdem er den Mund mit seiner
Serviette abgetupft hatte.
»Was meint Papa mit dem Esoterik-Kram?«, wandte Anna sich an ihre
Mutter. Vorläufige Waffenruhe durch Themenwechsel, dachte Christian und
versuchte sich zu entspannen. Er warf einen Blick auf sein Handy und
überprüfte, ob er auch ja keinen Anruf verpasst hatte.
»Ich war bei einer Aura-Leserin! Es war wirklich aufregend, Anna.
Sie sieht die Aurafarben als Ringe, wie farbige breite Hula-Hoop-Reifen! Erdige
Menschen zum Beispiel haben eine rote Aura, sie sind auf einer konkreten,
materiellen Ebene. Praktisch und bodenständig. Grün ist mit Liebe durchtränkt,
diese Leute sind sehr fürsorglich auf einer höheren Ebene. Das ist so
aufregend! Wenn du willst, nehme ich dich mal mit.«
»Sicher, Evelyn«, mischte sich Walter mit spöttischem Tonfall ein,
»Anna geht bestimmt gerne mal zu einer Talkshow mit Gandhi, Buddha und Jesus.
Oder wer war noch alles dabei?«
Doch keine Waffenruhe, stellte Christian insgeheim fest, nur ein
neuer Frontverlauf.
Anna sah ihre Mutter fragend an.
Die nickte. »Die Auraleserin hat weiÃe Seelen zur Hilfe gerufen.
Damit die sie beraten und schwarze Geister vertreiben.«
»Und? Hatâs geklappt? Wie sieht Jesus denn so aus? Richtig knackig
in so âner Windel wie am Kreuz oder eher ätherisch im weiÃen
Wallawalla-Gewand?«
Christian fiel auf, dass Anna den gleichen spöttischen Tonfall, ja
sogar exakt den gleichen hochmütigen Gesichtsausdruck wie ihr Vater hatte.
Evelyns Miene verschloss sich und die fast kindliche Begeisterung
darin verschwand. Sie stand wortlos auf und holte den Hauptgang aus der Küche.
Sie tat Christian leid.
Während Evelyn den Labskaus servierte, spottete Walter unverdrossen
weiter: »Sie hat eine Lichtsäule angefasst, stellt euch vor. Diese Auratante
veranlasste eine Lichtsäule, sich im Raum aufzubauen, und Evelyn durfte sie
dann anfassen. Du hast sie doch gefühlt, mein Schatz, nicht wahr?«
Evelyn nickte. »Das habe ich. Aber mit euch kann man über so was ja
nicht reden.« Sie blickte Anna enttäuscht an. »Ich hatte gehofft, du
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