Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
hier lebten, bevor das Unheil hereinbrach. Als sie nach Reykjavík zogen, gewöhnte sich seine Mutter schnell an das städtische Leben und Treiben und den Verkehr. Sein Vater aber fühlte sich dort nie wohl, für ihn war die Stadt abweisend und voller Lärm. Damals entstanden dort etliche neue Viertel, die inzwischen längst integriert waren. Auch heute wurden neue Viertel hochgezogen, die für die Menschen gebaut wurden, die vom Land in die Stadt kamen und sich unterschiedlich schwer damit taten, sich in dieser neuen Welt zurechtzufinden. So vergingen die Jahre; aus der Vergangenheit, die in Vergessenheit geriet, schob sich die Zeit in eine Zukunft, die niemand kannte.
Er selbst hatte sich, genau wie sein Vater, an dem neuen Ort nie richtig wohlgefühlt. Er begriff nicht, was er in der Stadt sollte, und er bekam nie eine Verbindung zu den Zeiten, in denen er lebte. Er wusste nur eins, nämlich dass irgendwann auf seinem Lebensweg die Zeit zum Stillstand gekommen war und dass es ihm nicht gelungen war, sie wieder in Gang zu setzen. Er hatte keine freudige Erleichterung empfunden, als er die Knochen in der Hand hielt, Freude darüber, dass jetzt ein langer Leidensweg beendet war, weil er die Antwort auf die Fragen bekommen hatte, die ihn seit dem Verschwinden seines Bruders bedrängt hatten. Selbst die Hoffnung auf Freude war längst vergangen.
Erlendur sah zu den Bergen hoch, dort schneite es schon bis zu den Hängen hinunter.
Er blickte sich auf dem Friedhof mit all den Grabsteinen und Kreuzen um. Geboren. Gestorben. Begraben. Meine liebe Frau. In stillem Gedenken. Ruhe in Frieden. Ringsum nur Tod.
Der Tod in einer kleinen Schachtel.
Er betrachtete die Knochen, und zutiefst in seinem Inneren wusste er, dass er etwas von den sterblichen Überresten seines Bruders in der Hand hielt. Die ganzen Jahre hatte er versucht, sich vorzustellen, wie er reagieren würde, falls es jemals dazu kommen sollte. Jetzt kannte er die Antwort, nämlich Taubheit. Leere. Diese kleinen Knochen beantworteten nicht alle seine Fragen. Es blieb unmöglich zu sagen, wo genau sein Bruder gestorben war, und es war ebenfalls ein Rätsel, wie die Knochen an die Nordseite des Berges gelangt waren. Und das würde es auch bis in alle Zukunft bleiben. Nichts konnte etwas an der Tatsache ändern, dass er im Alter von acht Jahren bei einem Unwetter ums Leben gekommen war. Der Knochenfund brachte Erlendur keine neuen Erkenntnisse, er war nur eine Bestätigung für etwas, was er bereits wusste. Nach all diesen Jahren war damit aber doch endlich eine Art von Gewissheit geschaffen worden, der Schlusspunkt einer Geschichte, wenn auch ein armseliger. Zurück blieb das Gefühl der Leere, das ihm stärker als je zuvor bewusst war.
Seine Augen wanderten von einem Grabstein zum anderen, von einem Kreuz zum nächsten, und irgendwo in seinem Hinterkopf verband sich eine Jahreszahl mit einem Datum, das ihn aufmerken ließ. Er hatte das Gefühl, dass beide ihm etwas zu sagen hatten. In dem Versuch, dieses Gefühl zu konkretisieren, ließ er seine Blicke ein weiteres Mal über Grabsteine und Kreuze schweifen und hielt inne, als er auf die Jahreszahl 1942 stieß.
Er ging zu dem Grabstein, einem Granitblock, der einen Meter aus dem Schnee herausragte. Dort lag eine Frau, Þórhildur Vilhjálmsdóttir, die hochbetagt verstorben war, denn sie war 1850 geboren. Erlendur rechnete aus, dass sie mit einundneunzig Jahren gestorben war. Das Geburtsdatum war der 7. September 1850, und sie war am 14. Januar 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, verstorben.
Er sah noch einmal auf die Jahreszahl. Genau in dem Jahr war auch Matthildur verschollen. Das Datum des Todestags lag eine Woche vor dem Unwetter, in dem die britischen Soldaten umgekommen waren. Eine Woche bevor Matthildur verschwand.
Er starrte auf das Grab dieser Frau. Der Stein war sicher erst geraume Zeit nach der Beerdigung errichtet worden, vielleicht sogar erst Jahre später. Das ließ sich bestimmt nicht mehr feststellen. Man konnte aber davon ausgehen, dass zwischen ihrem Tod und der Bestattung wohl eine Woche verstrichen war, womöglich hatte das Unwetter zu einer Verzögerung beigetragen. Aber sie hätte auch noch vor dem Unwetter stattgefunden haben können.
Erlendur stand lange vor dem Grab und hing seinen Gedanken nach, wobei er sich auf die Jahreszahl konzentrierte. 1942. Er dachte an das Unwetter, an Matthildurs Tod, an Ezra. Vor allem aber auch an Jakob und die Möglichkeiten, die er gehabt hatte.
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