Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
hatte. Man hätte nachgefragt, und jemand hätte sich an den verschollenen Jungen erinnert.
Er suchte nach einer Jahreszahl auf der Schachtel, fand aber keine.
Es waren zwei Knochen. Er traute sich nicht, sie zu berühren, aber er war sich ganz sicher. Es waren ein Teil von einem Kieferknochen und ein Wangenknochen.
Sie waren nicht ausgewachsen.
Es waren die Knochen eines Kindes.
Vierundfünfzig
Erlendur stapft schweigend hinter seinem Vater her hinauf in die Berge. Er achtet kaum darauf, wo sie langgehen. Bergur kommt nicht so schnell mit, er bleibt zurück, holt sie dann aber im Laufschritt wieder ein. Doch bald vergrößert sich der Abstand erneut, und wieder muss Bergur rennen, um Schritt mit ihnen zu halten. Erlendur bleibt so dicht wie möglich bei seinem Vater, obwohl es nicht ganz einfach ist. Er versucht, in seine Fußstapfen zu treten, aber das ist schwierig, weil der Abstand zwischen ihnen so groß ist. Er muss manchmal schneller gehen, um nicht wie Beggi zurückzubleiben.
Nach einem langen Marsch beschließt ihr Vater, eine Pause einzulegen. Nicht seinetwegen, sondern wegen der Jungen, die verschnaufen müssen. Je höher sie nach oben kommen, desto tiefer wird der Schnee, und kleine Beine kommen hier nur schwer vorwärts. Er hat ein Fernglas dabei und sucht überall nach den Schafen.
»Warte, Lendi«, hört er Beggi hinter sich sagen. Er tut so, als hört er das nicht.
Beggi nennt ihn Lendi, seine Mutter nennt ihn ganz selten einmal Lillebob, doch das geht ihm unsäglich auf die Nerven. Es ist ein Kosename aus seiner frühesten Kindheit, den sie manchmal verwendet, um ihn zu necken. Sein Vater nennt ihn immer nur bei seinem richtigen Namen. Erlendur, sagt er, reich mir doch das Buch da drüben, oder: Erlendur, jetzt aber ab ins Bett.
Beggi hat ihn eingeholt. Sie haben sich mit Winterjacken, dicken Socken und Stiefeln, Schals und Mützen und Fäustlingen gut gegen die Kälte gewappnet. Er sieht, dass Beggi an seinem Handschuh fummelt. Er hat sein Spielzeugauto mitgenommen und zieht jetzt den Handschuh aus, holt das Auto aus der Jackentasche und betrachtet es, um sich zu vergewissern, dass es heil ist. Dann steckt er das kleine rote Auto in seinen Handschuh und streift ihn über. Jetzt kann er das Auto die ganze Zeit in der Hand halten.
»Ich sehe keine Schafe«, sagt der Vater. »Vielleicht müssen wir noch etwas höher hinaufsteigen und dort nach Spuren von ihnen suchen.«
Sie gehen in derselben Reihe weiter, der Vater voran, dann Erlendur und zuletzt Beggi, der das Spielzeug in der Hand hält und versucht, mit ihnen Schritt zu halten. Ihr Vater geht jetzt langsamer, er hält sich das Fernglas an die Augen, dann wechselt er die Richtung und kurz darauf schon wieder. Und dann sind sie auf einmal oben auf dem Hochplateau angelangt. Für Kinderaugen, die alles nur halb so schnell wahrnehmen und begreifen, geht alles rasend schnell. Die Ereignisse reihen sich wie Momentaufnahmen aneinander. Ihr Vater schaut zum Himmel. Beggi ist wieder zurückgeblieben. Es hat schon vor einiger Zeit angefangen leicht zu schneien, doch nun türmen sich mit rasanter Geschwindigkeit schwarze Unwetterwolken über den Bergen auf, der Himmel verdunkelt sich. Das Vorwärtskommen im Schnee wird immer schwieriger. Erlendur hat bislang das Wetter überhaupt nicht beachtet, doch auf einmal merkt er den scharfen Wind im Gesicht. Der Schneefall ist schon so dicht, dass er nicht mehr hinunter zum Eskifjörður sehen kann. Bergur ist ziemlich weit hinter ihnen. Erlendur ruft nach ihm, Bergur hört ihn nicht. Erlendur macht kehrt und geht ihm entgegen, verliert aber dabei seinen Vater aus den Augen, denn im nächsten Augenblick bricht der Schneesturm urplötzlich mit voller Gewalt los. Er ruft nach Bergur, der im Schnee hingefallen ist. Er ruft nach seinem Vater, doch es kommt keine Antwort.
Beggi steht wieder auf, verliert dabei einen Handschuh, der sofort vom Sturm weggeweht wird. Er läuft hinter ihm her, und Erlendur folgt ihm. Der Handschuh ist im Handumdrehn im Schneetreiben verschwunden, aber sie geben nicht auf und laufen immer noch hinter ihm her. Beinahe verliert er auch Beggi aus den Augen. Der denkt nur an seinen Handschuh, ihre Mutter hat ihnen beigebracht, gut auf ihre Sachen zu achten und nichts zu verlieren. Er greift nach Beggis Jacke, um ihn aufzuhalten. Beggi hat das Spielzeugauto in der kalten Hand und steckt es in die Jackentasche.
»Ich will meinen Handschuh wiederhaben«, ruft er gegen den
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