Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
Erlendur kam zu dem Schluss, dass er Einsicht in die Kirchenbücher der Gemeinde nehmen musste.
Bei der Tankstelle erfuhr er, wo der Pfarrer wohnte. Er parkte den Wagen vor dem Haus und betätigte die Klingel. Eine Frau mittleren Alters kam an die Tür, und er fragte nach dem Pfarrer. Die Frau sagte, er sei derzeit in Reykjavík, käme aber in zwei Tagen zurück.
»Weißt du, wo ich die Kirchenbücher der Gemeinde aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs finden kann?«, fragte er.
»Die Kirchenbücher?«, sagte die Frau. »Tja, ich weiß nicht. So alte? Wahrscheinlich werden die im Regionalarchiv in Egilsstaðir aufbewahrt. Ja, das glaube ich eigentlich. Rúnar würde dir sicher behilflich sein können, wenn er zu Hause wäre.«
Erlendur bedankte sich, fuhr zurück zur Tankstelle, rief beim Archiv an und erhielt die Auskunft, dass die Kirchenbücher der Gemeinde Eskifjörður im Regionalarchiv aufbewahrt würden und dass er sie jederzeit einsehen könne. Er hatte sich am Grab die Daten von Þórhildur notiert. Nun setzte er sich wieder ins Auto und fuhr ein weiteres Mal durchs Fagridalur nach Egilsstaðir.
Ein Angestellter des Archivs war ihm sehr behilflich, als er um die Kirchenbücher der Gemeinde Eskifjörður aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs bat. Es war derselbe, der ihm schon telefonisch Auskunft gegeben hatte. Der Mann führte ihn zu einem Tisch, wo er sich die Bücher in Ruhe ansehen konnte, und dann ging er, um das betreffende Kirchenbuch zu holen.
Erlendur blätterte zum Januar 1942 vor. Von der Jahreswende bis März hatte nur diese eine Beerdigung stattgefunden. Erlendur erinnerte sich daran, dass Ezra ihm gesagt hatte, er sei Jakob auf dem Friedhof begegnet, etwa zwei Monate nach Matthildurs Verschwinden, als er ein Grab auf dem Friedhof ausgehoben hatte.
Þórhildur war am 23. Januar beerdigt worden, zwei Tage nach dem Unwetter, neun Tage nachdem sie aus der Welt geschieden war.
Die knappe und etwas undeutliche Eintragung des Pfarrers am Rand überraschte Erlendur nicht.
Gr. ausg. v. Jak. R.
Grab ausgehoben von Jakob Ragnarsson.
Sechsundfünfzig
Zwei Stunden später stand er erneut am Grab von Þórhildur Vilhjálmsdóttir. Er hatte sich bereits einmal bis zu einem Sarg hinuntergeschaufelt und war sich nicht sicher, ob er das ein weiteres Mal auf sich nehmen wollte. Doch sein Verdacht würde nicht auf andere Weise bestätigt werden können. Auf dem Weg zurück von Egilsstaðir hatte er die ganze Zeit darüber nachgedacht, und er war sich seiner Sache so gut wie sicher.
Er war auch überzeugt, dass er diesmal nicht sehr tief graben musste, um die fehlende Bestätigung zu erhalten. Er ging nicht davon aus, dass er bis unter den Sarg von Þórhildur graben musste. Jakob hatte sich bestimmt die Arbeit so leicht wie möglich gemacht, zumal er auch nicht viel Zeit gehabt hatte. Es hatte schließlich keinerlei Gefahr bestanden, dass irgendjemand das Grab einer über Neunzigjährigen genauer unter die Lupe nehmen würde. Je länger Erlendur beim Grab stand, umso größer wurde seine Gewissheit, dass er wohl kaum mehr als einen Meter würde graben müssen.
Es dämmerte bereits, und Erlendur beschloss, bis zum Einbruch der Dunkelheit zu warten. Er setzte sich in den Jeep, ließ den Motor laufen und hörte Radio, modernen Jazz. Damit kannte er sich zwar nicht aus, aber die Musik gefiel ihm. Er versuchte, sich zu entspannen und weder an Ezra und Matthildur oder Jakob zu denken noch an seinen Bruder und die Schachtel mit den Knochen oder all das andere, was er in den Tagen, die er in den Ostfjorden verbracht hatte, herausgefunden hatte. Die ganze Zeit hatte er keinen einzigen Gedanken an sein Leben in Reykjavík verschwendet, so sehr hatten ihn die Nachforschungen über Matthildurs Verschwinden in Anspruch genommen. Dieser alte Fall hatte alte Wunden aufgebrochen. Er hatte schon früher überlegt, dieser Geschichte auf den Grund zu gehen, aber es erst bei diesem Besuch nach seiner Begegnung mit Bóas oben in den Bergen in die Tat umgesetzt. Im Grunde genommen hatte er es sich nicht zweimal überlegen müssen, Hrund einen Besuch abzustatten. Ihn trieb das Bedürfnis, Antworten zu finden. Er sehnte sich danach, mehr zu wissen, Ursachen auf den Grund zu kommen. Irgendjemand hatte einmal behauptet, so etwas spiele nach so vielen Jahren überhaupt keine Rolle mehr, die Zerstörungskraft der Zeit stelle den Sinn der Suche so sehr infrage, dass sie zum Schluss ganz einfach überflüssig war. Nichts würde sich
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