Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
um die Mutter, denn er weiß, dass sie ihretwegen schreckliche Ängste aussteht.
Er hat keinen Sinn für Zeit mehr. Es kommt ihm so vor, als sei es schon lange her, seit die Dunkelheit hereinbrach. Seine Kräfte schwinden, aber er weigert sich, aufzugeben, er kämpft sich weiter auf allen vieren vor, in der schwachen Hoffnung, dass er auf dem richtigen Weg ist, der ihn am Ende nach Hause führt. Seine Kleidung bietet keinen Schutz mehr gegen die Kälte. Inzwischen klappern seine Zähne nicht mehr, und auch das Zittern hat aufgehört, zum Schluss fällt er vornüber und kann sich nicht mehr rühren.
Er sinkt in den Schnee und schläft auf der Stelle ein.
Sein letzter Gedanke gilt Beggi, er sieht ihn vor sich, wie er versucht, dem Schneesturm zu trotzen, und sein ganzes Vertrauen auf den großen Bruder setzt.
»Verlier mich nicht«, hatte Beggi gerufen. »Du darfst mich nicht verlieren.«
»Es wird alles wieder gut«, hatte er gesagt.
Es wird alles wieder gut.
Fünfundfünfzig
Am letzten Morgen auf dem verlassenen Hof wachte Erlendur nach einer schlechten Nacht auf, ihm war kälter als je zuvor. Er beeilte sich, mit der Thermoskanne und seinen Zigaretten zum Auto zu kommen, und ließ die Heizung auf Hochtouren laufen. Als ihm etwas wärmer geworden war, schraubte er die Tasse ab, goss sich Kaffee ein und zündete sich eine Zigarette an. Die Schachtel mit den Knochen hatte er auch mitgenommen und auf den Beifahrersitz gelegt. Daníel hatte sie ihm mit den Worten überlassen, dass er sowieso nicht wüsste, was er mit dem ganzen Krempel seines Vaters anfangen sollte. Erlendur hatte sich bedankt und die Schachtel mit nach Bakkasel genommen.
Laut den Angaben auf der Schachtel hatte Daníel Kristmundsson sie auf einer Wanderung an der Nordseite des Harðskafi gefunden. Das war recht weit von der Stelle entfernt, wo Erlendur seinerzeit mehr tot als lebendig aufgefunden worden war. Bergur musste sich also viel weiter nach Norden verirrt haben, als man sich hatte vorstellen können. Falls es denn sterbliche Überreste von ihm waren. Es war aber keineswegs sicher, dass er an diesem Ort zu Tode gekommen war, die Knochen konnten auf verschiedene Weise dorthin gelangt sein. Beispielsweise durch einen Fuchs. So gesehen sagten diese Knochen in einer Pappschachtel aus einem Schuppen in Seyðisfjörður Erlendur nicht viel, aber doch genug. Er war überzeugt davon, dass es die Knochen eines Kindes waren, Kieferknochen und Wangenknochen, und ebenso konnte er sich des eindringlichen Gefühls nicht erwehren, dass es sich dabei um nichts anderes als um Überreste seines Bruder handeln konnte.
In der Nacht hatte er überlegt, ob er sie analysieren lassen sollte, um einen wissenschaftlichen Befund zu erhalten, wie alt sie waren, warum sie vom Schädel abgebrochen waren und wie lange sie Wind und Wetter ausgesetzt gewesen waren. Das würde viel Zeit in Anspruch nehmen, und es war völlig unklar, was dabei herauskommen würde. Er konnte auf eine wissenschaftliche Analyse verzichten, denn er war sich auch so vollkommen sicher, und sein Entschluss, was er mit den Knochen tun sollte und musste, stand bereits fest.
Nachdem Erlendur seinen Kaffee getrunken und zwei Zigaretten geraucht hatte, legte er den Gang ein und fuhr langsam die Auffahrt hinunter zur Hauptstraße Richtung Eskifjörður. Kurz vor dem Ort bog er zum Friedhof ab und parkte den Wagen beim Tor. Er blieb noch eine Weile bei laufendem Motor im Auto sitzen und genoss die Wärme. Er nahm die Schachtel zur Hand und betrachtete die Knochen. Wenn dort, wo Daníel sie gefunden hatte, noch mehr gewesen wären, hätte er sie dann nicht auch aufgesammelt? Fragen dieser Art hatten Erlendur die ganze Nacht im Kopf herumgespukt. Und er wusste, dass ihm eines noch bevorstand: zur Nordseite des Harðskafi hinaufsteigen. Nicht, um dort nach weiteren Knochen zu suchen, zumal er nicht die geringste Ahnung hatte, wo der genaue Fundort gewesen war und wie die Knochen dorthin gelangt waren. Nur er wusste den Grund dafür, warum er diesen Gang antreten musste.
Er stieg mit der Schachtel in der Hand aus dem Jeep und nahm die Schaufel mit, die er seit seinem Besuch in Djúpivogur nicht aus dem Wagen genommen hatte. Er würde auf keinen Fall so tief graben müssen wie dort auf dem Friedhof, ein Spatenstich unter die Rasendecke würde genügen.
Er stand lange am Grab seiner Eltern, wo ein kräftiger Wind blies. Er dachte an all die Zeit, die verstrichen war, seit sie alle zusammen noch
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