Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
Wind.
»Den finden wir schon noch«, sagt Erlendur.
Er muss ebenfalls schreien, damit Beggi hört, was er sagt. Erlendur glaubt, in die Richtung zu gehen, die sein Vater eingeschlagen hat. Bei der Jagd nach Beggis Handschuh hat er die Orientierung verloren, doch er glaubt immer noch zu wissen, wo sein Vater sein muss. Das Waten durch den Schnee und gegen den Sturm ist furchtbar schwierig, der Wind peitscht ihnen mit beißenden Eisnadeln ins Gesicht. Und mit jedem Schritt scheint es schlimmer zu werden. Er kann kaum die Augen offen halten und hat das Gefühl, überhaupt nicht vorwärtszukommen. Vor sich sieht er nur wildes Schneetreiben. All das ist so plötzlich geschehen, dass er keine Zeit gehabt hat, Angst zu bekommen. Er tröstet sich damit, dass sein Vater in der Nähe sein muss. Er ruft laut nach ihm, auch Beggi ruft jetzt, doch die Antwort bleibt aus.
Er weiß nicht mehr, in welche Richtung er gehen soll, weiß nicht, ob sie auf dem Weg nach oben oder nach unten sind. Er hat aber das Gefühl, als ob sie bergan gehen, in die Richtung, wo er seinen Vater zuletzt gesehen hat. Vielleicht stimmt das gar nicht, denkt er. Vielleicht sollte er nicht nach seinem Vater suchen, sondern versuchen, ins Tal zu gelangen. Vielleicht sollte er alles daransetzen, sich und Beggi zu retten.
Und dann beschleicht ihn die Angst. Beggi scheint das zu spüren.
»Es wird doch alles wieder gut, Lendi?«, fragt er.
Beggi muss ihm ins Ohr schreien.
»Es ist alles in Ordnung«, schreit Erlendur in dem Versuch zurück, ihm Mut zu machen. »Wir gehen jetzt nach Hause. Wir sind bald wieder zu Hause.«
Er will Beggi einen Handschuh von sich überlassen, stellt sich aber so ungeschickt an, dass der ebenfalls vom Sturm weggerissen wird. Beggi greift nach seiner Hand und klammert sich an ihn.
Erlendur weiß überhaupt nicht mehr, wohin er geht. Er hofft, dass er auf dem Weg nach unten ist, aber er ist sich nicht sicher. Er redet sich ein, dass das Wetter besser wird, sobald sie wieder weiter unten sind. Beggi fällt ständig hin, und sie werden aufgehalten, doch Erlendur darf seinen Bruder nicht im Stich lassen. Ihrer beider Hände sind eiskalt, und Erlendur hat nur den einen Gedanken, dass er die Hand seines Bruders festhalten muss.
Der Sturm zerrt aus allen Richtungen an ihnen, schleudert sie hin und her, bringt sie zu Fall. Es wird immer schwieriger, wieder aufzustehen. Sie können die Hand nicht vor Augen sehen, ihnen ist durch und durch kalt, und sie sind müde. Erlendur macht sich immer noch Hoffnung, irgendwo auf den Vater zu stoßen, aber sie erfüllt sich nicht. Gleichzeitig merkt er, dass er es nicht geschafft hat, den Weg nach unten ins Tal zu finden.
Und da geschieht es. Auf einmal ist Beggis frostkalte kleine Hand nicht mehr in seiner. Es kann gar nicht lange her sein, er hat es nur nicht gemerkt, seine Hand ist immer noch in dem Griff erstarrt, mit dem er Beggis Hand umklammert hatte, aber sie ist nicht mehr da. Er dreht sich um und will loslaufen, stürzt aber dabei in eine tiefe Wehe. Er steht auf und brüllt Beggis Namen, immer wieder, fällt wieder hin, ruft und schreit. Er hat angefangen, zu weinen, und die Tränen frieren ihm im Gesicht fest.
Er weiß überhaupt nicht mehr, was er tun soll, verzweifelt vor Angst setzt er sich in den Schnee. Er hat Angst um sich selbst, um seinen Vater, aber am meisten um Beggi. Er hat das Gefühl, dass er dafür verantwortlich ist, dass Beggi mit ihnen gegangen ist. Er wird den Gedanken nicht los, dass Beggi zu Hause geblieben wäre, wenn er sich nicht eingemischt hätte.
Der Sturm ist noch stärker geworden, als Erlendur wieder aufsteht und sich mehr kriechend als gehend vorwärts kämpft. Er weiß weder, wo er ist, noch, welche Richtung er einschlagen soll. Er hat über Menschen gelesen und gehört, die von Schneestürmen überrascht wurden, und erinnert sich daran, dass man sich im Schnee vergraben und abwarten muss, bis das schlimmste Wetter vorüber ist. Auch, dass man nicht im Schnee einschlafen darf, weil man dann vielleicht nicht wieder aufwacht. Er muss aber weiter nach Beggi suchen, er darf nicht aufgeben. Er hofft heiß und innig, dass Beggi schon auf dem Weg hinunter ins Tal ist, auf dem Weg nach Hause, vielleicht hat ihn die Mutter schon in die Arme geschlossen. Er stellt sich vor, dass Beggi ihn in Empfang nehmen wird, und der Vater auch, wenn er selbst nach Hause kommt. Es wird alles wieder gut, wenn seine Mutter ihn in die Arme nimmt. Er macht sich Sorgen
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