Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
alle Himmelsrichtungen verstreut, sozusagen im Handumdrehen – und es wurde nie wieder, wie es war.«
»Kannst du dich an eine Freundin von Matthildur erinnern, die Ninna genannt wurde?«, fragte Erlendur.
»Ja, ich erinnere mich an sie. Ein sehr nettes Mädchen. Ich glaube, sie lebt sogar noch, das solltest du überprüfen. Sie heißt Ninna, sie wurde nicht nur so genannt.«
»Hat sie die ganze Zeit hier in den Ostfjorden gelebt?«
»Ja, das hat sie. Matthildur und sie waren eng befreundet, von Kindheit an.«
»Vielleicht werde ich mal bei ihr vorbeischauen«, sagte Erlendur und erhob sich. »Ich möchte wirklich nicht, dass du dir wegen meines Geschwätzes die ganze Nacht um die Ohren schlagen musst.«
»Das ist schon in Ordnung«, entgegnete Hrund. »Ich habe doch sowieso nichts vor. Ich verstehe bloß nicht, wieso du dich so für Matthildur interessierst. Sie ist doch eine völlig Fremde für dich. Willst du ein Buch schreiben?«
»Nein«, sagte Erlendur lächelnd. »Daraus wird kein Buch. Nur eine Frage noch. Kannten sich Ingunn und Jakob, bevor Matthildur und er ein Paar wurden?«
»Ingunn und Jakob? Wieso fragst du danach?«
Erlendur überlegte, ob er ihr von Matthildurs Brief erzählen sollte und von dem Wort scheusal, das über Jakobs Nachruf gekritzelt worden war, den er in Ingunns Kiste gefunden hatte. Es war keineswegs sicher, ob sie es selbst geschrieben hatte, das konnte auch jemand anderes getan haben. Vielleicht war es auch gar nicht ihre Zeitung gewesen, jemand anderes konnte sie ihr zugeschickt haben.
»Es war bloß so ein Einfall von mir«, sagte er. »So hübsch, wie ihr wart, hattet ihr doch bestimmt viele Verehrer.«
»Was hast du herausgefunden?«, fragte Hrund, die sich mit Erlendurs beschwichtigenden Worten nicht zufriedengab.
»Gar nichts«, beeilte er sich zu sagen, denn er merkte, dass sich das Verhalten der alten Dame urplötzlich geändert hatte.
»Du … du kramst doch nicht etwa in unserer Familiengeschichte herum?«, fragte sie.
Erlendur war klar, dass diese Unterhaltung eine unangenehme Wendung zu nehmen drohte, und er war sich nicht sicher, ob und wie er sich da herauslavieren konnte. Nach der schlaflosen Nacht verspürte er jetzt Müdigkeit. Er war den ganzen Tag unterwegs gewesen, und mit seiner Konzentrationsfähigkeit stand es nicht mehr zum Besten.
»Nein, natürlich nicht«, sagte er, hörte aber selbst, wie wenig überzeugend er klang.
»Ich möchte dir klipp und klar sagen, dass mir deine Herumschnüffelei absolut nicht gefällt. Ich lege keinen Wert darauf, dass du zu mir kommst und mich nach meinen Nächsten ausfragst wie … wie jemand von der Polizei. Das kommt überhaupt nicht infrage.«
»Nein, selbstverständlich nicht«, erwiderte Erlendur. »Entschuldige, wenn ich dir auf irgendeine Weise zu nahe getreten …«
»Was willst du hier eigentlich?«, unterbrach ihn Hrund, die jetzt ziemlich böse klang. »Was willst du über meine Familie herausfinden? Und was zum Kuckuck hat das mit Bergnot und Vermissten zu tun?«
»Nichts«, sagte Erlendur, »gar nichts. Du hast bloß selber die Gerüchte erwähnt, die damals über Jakob in Umlauf waren, zum Beispiel, dass Matthildur ihm nach ihrem Tod keine Ruhe gelassen haben soll.«
»Ich habe dir ausdrücklich gesagt, dass es sich nur um Gerüchte handelte. Nimmst du so etwas wirklich ernst? Uralte Klatschgeschichten?«
»Nein, aber …«
»Ich glaube nicht an Gespenster und dergleichen.«
»Ich auch nicht.«
»Vielleicht ist es besser, wenn du gehst.«
Erlendur verabschiedete sich hastig, setzte sich in sein Auto und fuhr davon, ohne zurückzublicken. Doch er wusste, dass sie bereits wieder am Fenster saß, und stellte sich vor, dass Blitze aus ihren Augen schössen.
Er hielt ein weiteres Mal oberhalb der riesigen Baustelle an. Die langen Hallen für die Schmelzöfen waren schon relativ weit hochgezogen, und ein Heer von Arbeitern schuftete rund um die Uhr im Wettlauf mit der Zeit. Die grellen Flutlichter erleuchteten das abendliche Dunkel, alles wirkte unwirklich, fremd und unnatürlich. Die unablässigen Bauarbeiten und der mit ihnen verbundene Lärm standen in scharfem Kontrast zum Schweigen der Natur, zum engen Fjord, zum stillen Meer und den Bergen, die sich mit ihren weißen Schneekappen im Wasser spiegelten.
Vierzehn
Wieder überkommt ihn dieses seltsame Gefühl, als würde er auf dem verlassenen Hof in seiner Ecke auf dem Boden liegen und jemand verfolge ihn. Das können nur
Weitere Kostenlose Bücher