Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
Fantasiegebilde sein. Er weiß, dass er sich nicht mehr in dem Haus befindet, er hat es verlassen. Sonst könnte er nicht die Sterne am Himmel sehen.
Vielleicht sind auch sie nur Fantasiegebilde.
Er blickt zur Tür, sieht aber nur schwärzeste Finsternis. Er streckt die Hand aus und spürt die Feuchtigkeit an der rauen Wand. Er tastet nach der Taschenlampe, die er mitgebracht hat, und schaltet sie ein. Der schwache Strahl wirft ein geisterhaftes Licht auf seine Umgebung, die türlose Öffnung, dort wo der Eingang war, die kaputten Fenster, durch die ein kalter Wind hereinbläst, die Decke, die an einigen Stellen heruntergebrochen ist. Er spürt die Nähe von jemandem, den er nicht sehen kann.
»Wer ist da?«, ruft er, doch es kommt keine Antwort.
Er steht auf, tastet sich vor, der Lichtkegel der Taschenlampe weist ihm den Weg. Er sieht keine Anzeichen dafür, dass der Reisende noch hier ist, der hier in der Tür gestanden und ein Feuer auf dem Fußboden entfacht und mit ihm gesprochen hat, als seien sie alte Bekannte. Alles das ist verschwunden, trotzdem kann er sich der seltsamen Idee nicht erwehren, dass sich das alles erst noch ereignen wird.
Sein Lager dort, wo einmal die Sofaecke im Wohnzimmer gewesen war, besteht aus einer dünnen Matratze, einem Schlafsack, zwei Decken und seinem Rucksack, den er sich unter den Kopf schob. Daneben stehen seine ausgetretenen Wanderschuhe und eine Mülltüte für seine wenigen Abfälle. Er hat kaum Gepäck dabei, und er hält Ordnung um sich herum. Das Haus ist zwar nur noch ein steinernes Relikt, es bietet kaum noch Schutz vor Wind und Wetter, aber der Respekt vor der guten Stube steckt in ihm, so wie er ihm eingeimpft wurde, als das hier noch das Haus seiner Familie war.
»Ist da jemand?«, ruft er leise.
Das Haus antwortet mit dem Heulen des Windes und einer quietschenden Tür, die gerade noch in ihren Angeln hängt, und mit zwei knarrenden Wellblechplatten, die sich aus einem unbegreiflichen Starrsinn heraus immer noch an die Dachkante krallen. Er geht zum Eingang und richtet den Strahl der Taschenlampe hinaus auf den Hof, dann geht er wieder zurück in das, was einmal die Küche war. Der Lichtkegel der Taschenlampe wird immer schwächer, um ihn herum wird es immer finsterer. Der Strahl beleuchtet flackernd ein paar leere Schrankregale. Der Küchentisch hatte beim Fenster gestanden, von dort hatte man den Schafstall und die Scheune im Blickfeld, und darüber die Berge. An diesem Tisch hatte jeder Tag morgens begonnen und abends geendet.
»Ist da jemand?«, flüstert er.
Von der Küche geht er über den kurzen Flur zu den Schlafzimmern, zu dem der Eltern und dem der Brüder. Das elterliche Zimmer kann er nicht betreten, dort ist beim Türrahmen die Decke eingestürzt. Da drinnen hatte sein Vater gesessen, untröstlich, nachdem er es unter Aufbietung aller Kräfte wieder zurück zum Hof geschafft hatte, mehr tot als lebendig nach den Strapazen, die er durchgemacht hatte. Begleitet von dem Gedanken an seine beiden Söhne, die den Naturgewalten schutzlos ausgeliefert waren. Für ihn stand fest, dass sie keine Überlebenschance hatten. Nur er wusste, was für ein Unwetter in den Bergen tobte, und er hatte kapituliert. Er hatte schlimme Erfrierungen im Gesicht und starrte vor sich hin, als sich die Männer im Haus einfanden, die sich auf die Suche machen wollten.
»Ist da jemand?«, flüstert er erneut, doch wieder kommt keine Antwort. Das Licht der Taschenlampe wird immer schwächer, fängt an zu flackern. Er schlägt mit der Lampe in seine flache Hand, für einen Augenblick leuchtet sie wieder heller. Die Batterien sind wohl so gut wie leer. Er geht zu dem Zimmer, wo sie als kleine Jungen schliefen, und richtet den Lichtstrahl dorthin, wo einstmals die beiden Betten an den Wänden standen, dazwischen ein kleiner Nachttisch, und davor ein Bettvorleger, damit sie nicht auf den kalten Fußboden steigen mussten. An der Wand ein Schrank für ihre Kleider.
Jetzt herrscht dort Finsternis.
Ihm wird klar, dass niemand außer ihm im Haus ist. Diese Nähe von jemand anderem, die er gespürt hatte – sie ist nur Täuschung gewesen. Also kehrt er um, geht an der Küche vorbei durch den Flur zurück ins Wohnzimmer, die Taschenlampe hat den Geist aufgegeben. Er versucht es noch einmal mit einem kräftigen Schlag in seine flache Hand, und ein schwacher Strahl fällt auf die Wand gegenüber. Der Schatten eines Menschen gleitet über die düster beleuchtete Wand, und er sieht für
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