Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
sitzen, zündete sich eine Zigarette an und sah zu, wie der Schnee träge vom Himmel rieselte, denn es ging immer noch kein Wind. Er nahm sich ausgiebig Zeit für seine Zigarette.
Er dachte an die Wanderungen, die er seit seiner Ankunft unternommen hatte, vom Inneren des Eskifjörður aus an den Hängen entlang hoch in die Berge. Seine alten Wanderschuhe waren zwar abgenutzt, taugten aber immer noch, und zum Schutz gegen Wind und Wetter trug er eine Regenhose und einen wetterfesten Anorak. Außerdem hatte er immer seinen Rucksack dabei. Als er Bóas beim Urðarklettur traf und sich ihm anschloss, war er gerade auf einer solchen Tour gewesen. Meist ging er frühmorgens los und kehrte abends wieder zurück, aber es kam auch vor, dass er im Freien übernachtete und sich zum Schlafen ins Moos legte, allein mit den Vögeln. Dann legte er sich auf den Rücken und den Kopf auf den Rucksack, blickte zum sternenübersäten Nachthimmel hinauf und dachte über die Theorie nach, dass das All sich immer weiter ins Leere hinein ausdehnte. Er genoss es, mit den Sternen über sich an Größenordnungen zu denken, die völlig unbegreiflich waren. Dann kam sein Geist zur Ruhe und er verspürte eine Weile Linderung, wenn er an die größeren Zusammenhänge dachte.
Er hatte auch schon früher gern im Heidekraut oder im weichen Moos gelegen, den Vögeln gelauscht und zum Himmel hochgestarrt. Er konnte sich gut daran erinnern, als er zum ersten Mal in die Ostfjorde zurückgekehrt war, nachdem die Familie von dort weggegangen war. Es war nach dem Tod seines Vaters gewesen, der sich gewünscht hatte, in der Heimaterde begraben zu werden. Er und seine Mutter flogen mit dem Sarg nach Egilsstaðir, von wo aus er auf einem offenen Lastwagen nach Eskifjörður gebracht wurde. Damals war die Strecke noch eine holperige Schotterstraße gewesen, und er erinnerte sich noch ganz genau daran, wie erbärmlich er diesen Transport gefunden hatte. Er und seine Mutter saßen in der Führerkabine und mussten das Geschwätz des Fahrers über sich ergehen lassen, der äußerst redselig war, und aus dem Radio dudelte Musik. Er hätte ihn am liebsten um etwas mehr Rücksichtnahme und Mitgefühl gebeten, aber seiner Mutter schien es gleichgültig zu sein. Es war mitten in der Woche gewesen, und die Beerdigung war nur einmal im Radio angekündigt worden. Zu der kurzen Trauerfeier hatten sich nur wenige Menschen aus der Gegend eingefunden, und es hatten keine Nachrufe in den Zeitungen gestanden. Zum Schluss standen er und seine Mutter allein am offenen Grab auf dem Friedhof. Ein weißes Kreuz mit einer schwarzen Metallplatte wartete darauf, in die Erde gerammt zu werden.
»Gott segne dich«, hörte er seine Mutter flüstern.
Später war er mit seiner Mutter zu ihrem ehemaligen Zuhause in Bakkasel gefahren, das seit ihrem Fortgehen verlassen war. Das Haus wies schon damals Anzeichen des Verfalls auf, die Haustür stand offen und Fenster waren zerbrochen, auch Schafe waren im Haus ein und aus gegangen. Seine Mutter ging zunächst wie in Trance von einem Zimmer ins andere. Das Leben, das sie dort gelebt hatte, schien einer anderen Welt anzugehören. Der Welt von gestern. Er bewunderte die Stärke, die sie seit dem allzu frühen Tod ihres Mannes an den Tag gelegt hatte. Sie hatte die Beerdigung ganz in seinem Sinne arrangiert und auch auf dem Weg in den Osten keine Träne vergossen, den geschwätzigen Fahrer nicht zurechtgewiesen. Sie hatte einfach schweigend auf dem Friedhof gestanden und geflüstert: Gott segne dich. Doch als sie ihren Rundgang durch das Haus beendet und den Verfall gesehen hatte, da kam die Erinnerung an die Zeit zurück, als sie dort alle zusammengelebt hatten, und sie schien plötzlich zu begreifen. Nun war es, als würde die Schutzmauer einstürzen, die sie um sich errichtet hatte.
»Was ist hier geschehen?«, flüsterte sie.
»Komm, lass uns gehen«, sagte er.
»Ich schaffe es nicht«, sagte sie so leise, dass es kaum zu verstehen war.
»Komm.«
In dieser Nacht, als seine Mutter sich schlafen gelegt hatte, stieg er in die Berge hinauf. Es war eine helle Sommernacht, und am Fuße des Harðskafi legte er sich nieder und blickte zum Himmel empor.
Er war ein Kind gewesen, als sie fortgezogen waren, und damals, als er so viele Jahre später zurückgekehrt war, hatte das nicht nur angenehme Gefühle bei ihm geweckt. Auf dem verlassenen Hof erinnerte er sich an vieles, was er vergessen oder verdrängt hatte – oder versucht hatte zu
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