Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
verdrängen. Im Innersten wusste er, dass er diesen Ort gemieden hatte. Es vermieden hatte, an ihn zu denken oder dort hinzugehen. Die Sommernacht gewährte ihm keine Linderung. Ganz im Gegenteil, sie warf ein noch helleres Licht auf all das, was bei dieser Rückkehr so überaus schmerzlich und schwierig gewesen war. Im größeren Zusammenhang der Dinge spielte es zwar seiner Meinung nach kaum eine Rolle, aber er war überzeugt davon, dass es ihm nie beschieden sein würde, ein glücklicher Mensch zu sein.
Erlendur drückte eine weitere Zigarette im Auto aus und sah den Schneeflocken zu, die zur Erde fielen und ein Versprechen auf einen neuen Anfang zu geben schienen – und im Stillen verfluchte er sämtliche tragischen Schicksale, wo auch immer sie sich ereigneten.
Ninna war fünfundachtzig, eine äußerst kleine und zierliche Frau. Sie war in ihrem Zimmer und las in der Bibel. Erlendur hatte eine Aushilfskraft nach Ninna gefragt, denn er wollte es möglichst vermeiden, mit irgendwelchen Verwaltungsmenschen zu reden und ihnen Erklärungen geben zu müssen, wer er war und was er von Ninna wollte. Das Mädchen sagte ihm, wo Ninnas Zimmer sei, und er hatte keine Probleme, es zu finden.
»Wer bist du?«, fragte Ninna mit klarer Stimme, als Erlendur ihr Zimmer betrat.
»Mein Name ist Erlendur, und ich würde mich gerne ein wenig mit dir unterhalten«, antwortete er.
»Ich bekomme selten Besuch«, erklärte Ninna. Sie saß mit offenem grauem Haar auf dem Bettrand, die Bibel in der Hand. »Da kam allerdings neulich so ein Mädel und faselte was von alten Methoden in der Landwirtschaft, für die sich das Nationalmuseum interessiert, das wollte sie irgendwie aufnehmen. Ich habe dem armen Ding gesagt, dass ich nicht das geringste Interesse an solchem Geschwätz hätte, und im Nationalmuseum hätte ich nichts verloren! Da könnte sie mich hinverfrachten, wenn ich krepiert bin!«
»Ninna, ist das nicht ein ziemlich seltener Taufname?«, fragte Erlendur, um sich weiter vorzutasten und die Frau ein wenig besser kennenzulernen. Sie hatte sich nicht mit irgendwelchen Erinnerungsstücken umgeben, es standen weder Fotos von Anverwandten noch irgendwelcher Nippes herum. An der Wand hingen zwei alte Nachdrucke, und auf dem Nachttisch stand ein halb leeres Wasserglas.
»Das ist mir doch egal«, erklärte die alte Dame und klappte die Bibel zu. »Was willst du von mir, junger Mann?«
Erlendur kam zu dem Schluss, dass Süßholzraspeln hier unangebracht sei.
»Ich befasse mich mit dem, was in der Schicksalsnacht im Januar 1942 geschehen ist, als die britischen Soldaten auf dem Weg nach Eskifjörður bei einem Unwetter in Bergnot gerieten. Kannst du dich daran erinnern?«
»Selbstverständlich.«
»In derselben Nacht kam eine Frau ums Leben, von der ich glaube, dass sie deine Freundin war.«
»Das war Matthildur. Ja, die arme Matthildur. Weißt du etwas über sie?«
»Nein, nicht wirklich.«
»Matthildur war eine wunderbare Frau«, erklärte Ninna. »Wir waren eng befreundet, und ihr Verschwinden war ein schwerer Verlust. Einige behaupteten, sie hätte sich das Leben genommen, aber das war meiner Ansicht nach blanker Unsinn.«
»Tatsächlich?«, fragte Erlendur, dem dieses Gerücht bislang noch nicht zu Ohren gekommen war.
»Sie haben behauptet, sie wäre freiwillig ins Meer gegangen, sie hätte sich nie auf den Weg über die Berge gemacht, denn dort hätten die britischen Soldaten ihr begegnen müssen. Völliger Blödsinn. Diese Soldaten haben nicht die Hand vor Augen gesehen und hatten außerdem keine Ahnung, wo sie sich befanden. Ja, das war eine von den Klatschgeschichten, und dies hatte weder Hand noch Fuß.«
»Dass Matthildur sich umgebracht hätte?«
»Das hätte sie nie und nimmer getan. Sie hatte überhaupt keinen Grund dazu, nicht den geringsten. Ich kannte sie gut. Einfach Schwachsinn.«
»Und was glaubst du, was passiert ist?«
»Ist sie nicht in diesem Unwetter umgekommen? Dergleichen ist doch in diesem Land schon öfter passiert.«
»Kanntest du ihren Mann Jakob gut?«
»Wir waren zusammen tanzen, da haben sie sich das erste Mal getroffen. Er kam aus Reykjavík, hatte aber einige Zeit in Djúpivogur gelebt. Sie kannten sich kaum, als sie heirateten.«
»Was für ein Mensch war er?«
»Ich war immer der Meinung, dass sie einen Besseren verdient gehabt hätte«, erklärte Ninna. »Das habe ich aber nie gesagt, weder zu ihr noch zu ihm. Das ging mich nichts an. Auch nicht diese Sache, von der sie da
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