Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
»Ich habe die Geschichte von ihr gehört. Ingunn hatte ihr von alldem aber erst erzählt, als es bereits zu spät war. Zunächst hat sie überhaupt nicht reagiert, als Matthildur und Jakob sich zusammentaten, sie hat sich bestimmt nicht getraut. Man kann sich ja vorstellen, wie nahe ihr das gegangen sein muss. Vielleicht hat sie es einfach nicht wahrhaben wollen, als sie von dieser Beziehung hörte, und vielleicht hat sie gehofft, dass nichts daraus werden würde. Jedenfalls hat sie sich erst viel später überwunden und ihrer Schwester einen Brief geschrieben, in dem sie Matthildur von Jakob berichtete.«
Ninna sah zum Fenster hinaus in den herunterrieselnden Schnee.
»Ich bin nicht mit dieser Geschichte hausieren gegangen, und ich hoffe, du wirst das ebenfalls nicht tun«, sagte sie. »Auch wenn ich eigentlich gar nicht weiß, wer überhaupt noch Interesse an diesen alten Geschichten über Menschen haben könnte, die nur so wenige kannten und an die sich niemand mehr erinnert.«
»Matthildur hat diese Nachricht vermutlich schwer getroffen«, sagte Erlendur.
»Jakob hatte ihr nie etwas über diese Beziehung zu Ingunn erzählt, das war ja wohl auch nicht zu erwarten. Er war auch nie im Elternhaus der Schwestern gewesen, und dieses Techtelmechtel zwischen ihnen hatte in Djúpivogur stattgefunden. Ich könnte mir vorstellen, dass es ein schwerer Schock für Ingunn gewesen ist, als sie erfuhr, wen Matthildur geheiratet hatte.«
»Und für Matthildur, als die Wahrheit herauskam, nicht wahr?«
»Sie war am Boden zerstört, das hat sie mir selbst gesagt. Sie hat Jakob zur Rede gestellt, und er hat nicht geleugnet, Ingunn gekannt zu haben, die Vaterschaft stritt er aber nach wie vor ab.«
»Hätte das Matthildur zu einer Verzweiflungstat veranlassen können?«
»Meinst du, dass sie sich deswegen hätte umbringen wollen? Ich glaube, das ist ausgeschlossen. So war sie nicht veranlagt. Den Brief von ihrer Schwester hat sie ein Jahr vor ihrem Tod bekommen, sie hatte also genug Zeit, sich von dem Schock zu erholen. Ich glaube aber, dass sie vorhatte, ihn zu verlassen.«
»Sich von Jakob scheiden zu lassen?«
»Ja.«
»Wegen dieser Sache?«
»Etwas anderes fällt mir nicht ein.«
»Kam kein anderer Grund infrage?«
»Das ist der einzige, von dem ich weiß.«
Ninna verstummte und blickte lange auf ihre abgearbeiteten Hände. Sie seufzte und begann, gedankenverloren an ihrem grauen Haar zu zupfen, anscheinend eine alte Angewohnheit, wenn sie ihren eigenen Gedanken nachhing. Die Zeit verstrich, Stille herrschte im Seniorenheim. Das Schneetreiben draußen hatte zugenommen, man konnte kaum noch die nächsten Häuser erkennen. Ninna beobachtete durch das Fenster, wie der Schnee fiel, aber eigentlich schien es, als blicke sie durch den Schnee, die Häuser und die Berge hindurch.
»Ob ich das nächste Frühjahr wohl noch erleben werde?«, fragte sie gedankenverloren.
Erlendur wusste nicht, wie er darauf antworten sollte. Er hätte gerne gesagt, dass sie es selbstverständlich erleben würde, aber das wäre eine völlig aus der Luft gegriffene Behauptung gewesen.
»Reicht es nicht langsam?«, sagte Ninna. »Es reicht mir mit diesen langen Wintern.«
»Glaubst du, dass Ingunn den Brief geschrieben haben könnte, um die Beziehung zwischen Jakob und Matthildur zu zerstören? Um sich an ihm zu rächen?«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Sie hat irgendwo anders geschrieben, dass er ein Scheusal sei. Anscheinend war ihr Hass auf ihn groß.«
»Möchtest du den Brief sehen?«
»Hast du … Weißt du, wo er ist?«
»Matthildur hat ihn mir gezeigt und mich gebeten, ihn aufzubewahren. Sie glaubte vielleicht, dass Jakob ihn finden und vernichten könnte. Ich habe den Brief immer noch. Er liegt in der untersten Schublade in der Kommode dort drüben. Hol ihn doch bitte, mir fällt das Gehen so schwer.«
Erlendur stand auf. In der Kommode lag ein hölzernes Kästchen mit geschnitzten Verzierungen, das er Ninna brachte. Sie öffnete es und kramte in Fotos und Papieren, bis sie das gefunden hatte, was sie suchte. Sie stellte das Kästchen zur Seite, hielt den Brief in der Hand und betrachtete lange die Anschrift, bevor sie ihn Erlendur reichte.
»Ich habe ihn die ganze Zeit aufbewahrt«, sagte Ninna.
Er öffnete den Umschlag vorsichtig und nahm den Brief heraus, ein handgeschriebenes Blatt in schöner Schrift, datiert in Reykjavík, etwa ein Jahr vor Matthildurs Tod.
Meine liebe Matthildur!
Über das, was ich dir sagen
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