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Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)

Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)

Titel: Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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er es schon mehr als einmal gemacht.
    Er versucht, den kleinen Finger und den Daumen zusammenzubringen, aber es gelingt ihm nicht. Er versucht es noch einmal. Die Hand ist völlig starr, in den eiskalten Fingern ist kein Leben mehr. Er kann nicht einmal einen einzelnen Finger bewegen, geschweige denn, zwei zusammenbringen. Das Signal ans Gehirn erfriert irgendwo auf dem Weg durch den Arm. Er kann sich, sosehr er sich auch anstrengt, nicht mehr daran erinnern, in welchem Stadium der Unterkühlung es noch hätte möglich sein sollen.
    Es gab da drei Stadien, das weiß er noch, denn er hat viel über Hypothermie gelesen, um das Phänomen zu begreifen. Zunächst führt Unterkühlung zu einem todesähnlichen Zustand und mit nachlassender Gehirntätigkeit zu langsamem Entschlafen.
    Er weiß zwar noch, dass ein Wärmeverlust von ein, zwei Grad unkontrollierbares Zittern und Taubheit bis in die Finger zur Folge hat, aber ihm ist nicht klar, ob er diese Stufe bereits überschritten und die nächste erreicht hat. Darüber denkt er die ganze Zeit nach, während er sich unablässig abmüht, eine so einfache Bewegung wie das Zusammenführen von Daumen und kleinem Finger auszuführen. Er weiß, dass sich die Adern in der obersten Hautschicht zusammengezogen haben, um weniger Wärme nach außen abzugeben, denn der Körper reagiert auf Wärmeverlust, indem er die Wärmeabgabe so weit wie möglich reduziert. Eine der Reaktionen war Gänsehaut.
    An die Gänsehaut erinnert er sich, aber es kommt ihm so vor, als sei das bereits viele Wochen her.
    Er erinnert sich auch an das merkwürdige Gefühl, als er sich unbedingt die Kleider vom Leib reißen wollte. Aber er weiß auch nicht, wie lange das her ist. Er bildet sich ein, dass dieses Gefühl mit dem Übergang vom ersten zum zweiten Stadium der Hypothermie verbunden ist. Es war ihm wie ein plötzlicher Hitzeschauer vorgekommen, der in die Haut und bis in die Extremitäten vordrang, auf eine ganz seltsame Weise war ihm plötzlich heiß geworden. Er weiß nicht, ob ihm tatsächlich warm geworden war oder ob ihm das Gehirn nur etwas vorgegaukelt hatte. Er hatte von Fällen gelesen, in denen sich Menschen im Zustand der Hypothermie die Kleider vom Leib rissen, weil sie das Gefühl hatten, vor Hitze zu ersticken. Er wusste auch von zwei Theorien in Bezug auf solche Hitzeschübe. Zum einen die, dass der Bereich des Gehirns, der die Körpertemperatur regelt, nicht mehr funktionsfähig ist und missverständliche Signale an die Haut weitergibt. Die andere Theorie lautete, dass die Muskulatur, die die Adern zusammenzieht, um dem Wärmeverlust entgegenzuwirken und die Blutzufuhr zu den wichtigsten Organen zu sichern, unter anderem zum Gehirn, einfach unkontrolliert nachgibt. Dann dringt das Blut wieder in die äußeren Hautschichten vor, was die Betroffenen als plötzlichen und unerklärlichen Hitzeschub empfinden.
    Auf der zweiten Stufe der Hypothermie ist die Körpertemperatur um bis zu vier Grad gesunken, Lippen, Ohren und Finger nehmen eine bläuliche Färbung an.
    Auf der dritten Stufe sinkt die Körpertemperatur unter 32 Grad Celsius. Dann hört das Zittern auf, Hirnfunktion und Sprachfähigkeit sind stark eingeschränkt und Schläfrigkeit stellt sich ein. Die Haut wird am ganzen Körper blau, Denken und Wahrnehmung sind stark beeinträchtigt. Organversagen ist die Folge, der Organtod tritt ein, der Hirntod jedoch wird durch die Kälte verzögert, die Zellen und das Hirngewebe sterben langsamer ab und werden entsprechend nicht so schnell beschädigt.
    Er hat viele Berichte über die Erforschung von Kälteresistenz gelesen und in den vergangenen Tagen selbst herausgefunden, wie unberechenbar der menschliche Körper reagieren kann. Er hat auch schon mit eigenen Augen gesehen, wie der Überlebenswille eines Menschen den Rahmen der ihm angeblich gesetzten Grenzen sprengen kann. Und er hat von Menschen gelesen, die in diesen nördlichen Breiten im tiefsten Winter in Seenot gerieten und trotz lebenswidrigster Umstände überlebten. Oder von Menschen, die man bei höllischer Kälte im isländischen Hochland längst aufgegeben hatte, die aber trotzdem mit dem Leben davonkamen. Und er weiß jetzt, dass das keine Lügen oder Übertreibungen waren.
    Noch einmal versucht er, mit dem Daumen den kleinen Finger zu erreichen, aber es ist unmöglich. Er spürt seine Hand überhaupt nicht mehr, er kann auch nicht sehen, ob sie bereits blau ist oder Erfrierungen aufweist.
    Einiges von dem, was er über

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