Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
Kälteresistenz weiß, über die Fähigkeit des Menschen, auch unter schwierigsten Bedingungen zu überleben, hat er im Zusammenhang mit dem Vermisstenfall gelernt, dem er seit seiner Ankunft in den Ostfjorden nachgegangen ist. Parallel zu dem, was er über die Menschen in dieser Gegend in Erfahrung gebracht hat, über ihre seltsamen familiären Beziehungen, ihre Lügen, ihre Freundschaften und über das Schicksal von Matthildur, hat sich auch sein Wissen über Hypothermie erweitert.
Gerade noch hat er das Sternenmeer am Nachthimmel sehen können. Jetzt sieht er nichts mehr.
Er weiß, dass er sich das Scharren, das er von unten aus der Erde zu hören glaubt, nur einbildet. Und der ferne Klagelaut, der an seine Ohren dringt, kommt aus seinem eigenen Inneren. Er weiß, woher diese Geräusche kommen, er fürchtet sie nicht.
Sein Bewusstsein trübt sich wieder.
Dann bedrängen ihn andere Laute. Seine eigenen Worte aus ferner Vorzeit, mit denen er seitdem leben muss, Worte, die er nie hätte sagen dürfen.
So unbedeutende Worte.
So ungeheure Worte.
Zwanzig
Er fuhr den gleichen Weg zurück, den er gekommen war, und vermied ein weiteres Mal den neu eröffneten Tunnel zwischen Fáskrúðsfjörður und Reyðarfjörður. Die Straße war tief verschneit und noch schwieriger zu befahren als mittags, doch sein kleiner Jeep hatte keine Probleme auf der Strecke, die an den gefährlichen Hängen von Vattarnes vorbeiführte. Irgendwo unterhalb der Straße befand sich Manndrápsgil, eine Schlucht, in der, wie der Name besagte, Menschen in den Tod gestürzt waren.
Der Tag ging zur Neige, und bei dem anhaltenden Schneetreiben warfen die Flutlichter an der Baustelle des Aluminiumwerks nur eine schummrige Beleuchtung über den Fjord. Kurz überlegte er, ob er wirklich jetzt sofort zu Hrund fahren sollte, solange ihm die Informationen, die er von Ninna erhalten hatte, noch frisch in Erinnerung waren, und befand, dass die Sache keinen Aufschub duldete. Er fuhr vor ihrem Haus vor, doch diesmal saß sie nicht wie gewohnt am Fenster.
Er stieg die Stufen zum Haus hinauf und klopfte an, wartete eine Weile und klopfte dann noch einmal. Hrund schien nicht zu Hause zu sein. Er traute sich nicht, ein weiteres Mal unaufgefordert einzutreten, stattdessen ging er um das Haus herum und versuchte, durch die Fenster hineinzusehen. Nirgendwo Licht, nirgends regte sich etwas. Als er wieder bei der Haustür angelangt war, drückte er die Klinke hinunter, die Tür war nicht verschlossen. Er öffnete sie vorsichtig, trat einen Schritt in die Diele hinein und rief nach Hrund, erhielt aber keine Antwort. Er machte die Tür hinter sich zu und ging ins Wohnzimmer, wo ihr Stuhl am Fenster stand. Auf einmal hatte er das Gefühl, zu weit zu gehen, es war vielleicht besser, wieder zu gehen. Wahrscheinlich war Hrund nur kurz zum Einkaufen gefahren und konnte jeden Augenblick zurückkommen, und er wollte auf keinen Fall im Haus sein, wenn sie eintraf. Also ging er wieder zurück und hatte die Haustür schon geöffnet, als er sich noch einmal umdrehte und in den Flur blickte, an dessen Ende die Küche lag. Durch das Fenster fiel etwas Licht von der Straße herein, und er sah eine Hand – Hrund lag in der Küche auf dem Boden. Mit wenigen Schritten war er bei ihr, sie lag auf der Seite, die Augen geschlossen. Er tastete nach ihrer Halsschlagader und spürte einen schwachen Puls. Im nächsten Moment griff er zu ihrem Telefon und gab die Nummer des Notrufs ein. Er holte eine Decke aus dem Wohnzimmer, die er über sie breitete, ansonsten vermied er jegliche Berührung. Sie schien das Bewusstsein verloren zu haben. Bei seinem Eintreffen war die Tür zwar nicht offen, aber unverschlossen gewesen. Aber er hatte keine Anzeichen dafür bemerkt, dass ein anderer zum Haus gekommen war.
Hrund gab ein schwaches Stöhnen von sich. Erlendur kniete bei ihr nieder.
»Was ist passiert?«, fragte er.
Hrund öffnete die Augen und blickte sich um.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er.
Sie versuchte aufzustehen, aber er befahl ihr, liegen zu bleiben und auf den Krankenwagen zu warten, den er angefordert hatte, er müsse jeden Moment eintreffen. Als er sie fragte, ob sie Schmerzen hätte, im Kopf oder in der Herzgegend, schüttelte sie schwach den Kopf.
»Zucker«, flüsterte sie.
»Sprich lieber nicht«, sagte Erlendur. »Du hast hohes Fieber. Wo finde ich Zucker?«
»Im Schrank …«
Erlendur stand auf.
»Ich muss wohl … ins Krankenhaus.«
Erlendur holte ein Stück
Weitere Kostenlose Bücher