Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
ihn.
Er erwacht von seinen eigenen Schreien. Er schreit aus allen Leibes- und Seelenkräften, schreit, was die Lungen hergeben, schreit, bis sein Gesicht rot anschwillt. Er schreit und schreit und schreit, als gehe es um sein Leben, bis seine Mutter zurückkehrt, und mit ihr der Arzt. Es gelingt ihnen, ihm eine Spritze zu geben.
Fünfundzwanzig
Erlendur hatte in Neskaupstaður problemlos eine Mitfahrgelegenheit nach Reyðarfjörður finden können. Er holte sein Auto vor Hrunds Haus ab und fuhr abends zum verlassenen Hof nach Bakkasel. Er nahm noch eine Decke aus dem Auto mit ins Haus und stellte erleichtert fest, dass sein Schlafplatz im ehemaligen Wohnzimmer trocken geblieben war. Er zündete die Gaslampe an, und bald wurde es ein wenig wärmer um ihn. Nach zwei Zigaretten mit starkem Kaffee öffnete er die Warmhaltepackung mit dem Fertiggericht, das er unterwegs gekauft hatte, es war immer noch lauwarm. Er war sehr hungrig und aß den größten Teil der Mahlzeit, Fleisch in dicker brauner Sauce mit Kartoffelpüree, dazu ein Klacks Marmelade. Erlendur spülte den letzten Happen mit Kaffee hinunter, und nach dem Essen rauchte er zwei weitere Zigaretten. Dann griff er zu dem Buch, das er gerade las, Erlebnisse isländischer Studenten im Kopenhagen des 19. Jahrhunderts. Manchmal schmunzelte er unwillkürlich über das, was er las, und einmal musste er laut auflachen.
Doch auch während des Lesens schweiften seine Gedanken immer wieder zu Hrund und zu all den anderen ab, die zurückblieben, wenn plötzlich Angehörige spurlos aus ihrem Leben verschwanden. Sie litten ihr ganzes Leben unter dem Verlust, und nicht selten kämpften sie mit Schuldgefühlen. Wenn Menschen als vermisst gemeldet wurden, richtete sich die ganze Aufmerksamkeit auf den Verschollenen, seine Lebensumstände und die möglichen Gründe für sein Verschwinden. Früher hatte er manchmal bei der Arbeit mit Marian Briem darüber sprechen können, Marian konnte zuhören und wusste vermutlich besser als andere, was Verlust bedeutete. Erlendur hatte das Gefühl gehabt, dass es mit Schwindsucht und langen Aufenthalten in Tuberkulosekliniken in Island und Dänemark zu tun hatte. Marian hatte kaum darüber gesprochen, wie es war, in jungen Jahren an Tuberkulose zu erkranken, nur manchmal mit Erlendur, wenn er darauf drängte, um einen kleinen Einblick zu erhalten, wie es in einer Lungenheilanstalt zuging: Menschen in Liegehallen, Keuchen, Husten und Blutspucken. Aus diesen Schilderungen glaubte Erlendur eine tragische Liebesgeschichte herauszuhören, was Marian aber niemals direkt sagte.
»Und an was denkst du da präzise?«, hatte Marian ihn einmal gefragt.
»Wenn Menschen spurlos verschwinden«, hatte Erlendur geantwortet. »Ich versuche dir zu sagen, dass ich als Experte, als Kriminalbeamter, in erster Linie feststellen muss, was passiert ist, wer, wie und weshalb er verschwand.«
»Ja«, entgegnete Marian. »Natürlich.«
»Aber was ist mit all den anderen?«
»Den anderen?«
»Denen, die zurückbleiben.«
»Was ist mit ihnen?«
»Ich habe Mitleid mit denen, die zurückbleiben. Die mit diesem Ereignis fertig werden und damit leben müssen. Mit Verlust und Trauer kämpfen, die ihnen bis zu ihrem Lebensende folgen. Diesen Menschen gilt mein größeres Interesse.«
»Kriminalbeamte sind keine Seelsorger, Erlendur«, hatte Marian gesagt. »Dazu sind Priester da.«
»Aber ich muss einfach immer daran denken.«
»Und willst helfen.«
»Wenn möglich, ja. Aber man kann so wenig tun.«
Erlendur starrte lange in die Finsternis und lauschte dem Heulen des Windes. Dann legte er das Buch zur Seite und fiel bei dem schwachen Schein der Gaslampe in einen traumlosen Schlaf.
Als Erlendur sich am nächsten Tag gegen Mittag auf den Weg machte, war der Weg durch das Fagridalur bereits geräumt. Er fuhr noch einmal zum Seniorenheim in Egilsstaðir und dachte an all diese Leute, die die Geschichte von Matthildur und Jakob kannten. Die meisten waren schon alt, manche sehr alt, wie Ninna und Ezra. Bald würde diese Geschichte in Vergessenheit geraten, das Schicksal und das Leben von Menschen mit traurigen und schönen Momenten. Alles würde am Ende dem ewigen Schweigen anheimfallen und unter einer kleinen Erhebung auf dem Friedhof begraben liegen, wo zuallerletzt auch niemand mehr zu Besuch kam, höchstens der Wind im Gras.
Kjartan saß allein im Aufenthaltsraum. Trotz seiner Sehbehinderung erkannte er Erlendur gleich wieder und fragte, ob er etwas von
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