Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
ganze Weile bei ihm geblieben, ohne dass sie etwas gesagt hätten. Er bemerkt, dass seine Eltern nicht miteinander reden. Seine Mutter unternimmt kaum etwas, um den Vater aus der dumpfen Teilnahmslosigkeit zu holen, die ihn befallen hat.
»Glaubst du, dass ihr Beggi finden werdet?«, fragt er.
»Natürlich finden wir ihn«, antwortet seine Mutter. »Es ist nur eine Frage der Zeit. Wir finden ihn, darauf kannst du dich verlassen.«
»Ihm muss doch kalt sein.«
»Daran wollen wir lieber nicht denken. Ich weiß, dass wir dich schon oft danach gefragt haben, aber erinnerst du dich an etwas, was uns vielleicht helfen könnte? Hast du etwas von den Bergen sehen können? Weißt du, in welche Richtung du gegangen bist?«
Er schüttelt den Kopf.
»Als wir Papa aus den Augen verloren haben, konnte ich überhaupt nichts mehr sehen, nur noch Schnee. Ich konnte kaum die Augen offen halten. Ich weiß nicht, ob es nach unten oder bergauf ging. Manchmal konnte ich nur noch kriechen. Ich habe keine Berge gesehen. Ich habe gar nichts gesehen.«
»Sie sagen, sie hätten dich so aufgefunden, als wärst du in eine Richtung gegangen, die noch weiter wegführte. Darauf deutet auch der Ort hin, wo sie dich gefunden haben. Und die Windrichtung. Der Sturm hat euch weiter weggetrieben, als wir uns vorstellen konnten. Du warst so hoch oben, dass es das reinste Wunder ist, dass wir dich gefunden haben. Seitdem suchen wir dort und auch noch höher oben. Meinst du nicht, dass auch Beggi so weit oben gewesen sein könnte?«
»Er hätte bei mir sein sollen. Ich habe ihn die ganze Zeit an der Hand gehalten, und dann war er auf einmal nicht mehr bei mir. Ich habe nach ihm gerufen und geschrien, aber ich konnte mich selber kaum hören, so laut war der Wind.«
Er kämpft mit den Tränen.
»Ich weiß, mein Junge, ich weiß es. Dem Himmel sei Dank, dass wir dich gefunden haben«, sagt sie und drückt ihn an sich.
»Beggi hat das kleine Auto mitgenommen«, sagt er.
»Was für ein Auto?«
»Das Auto, das Papa ihm geschenkt hat.«
»Das kleine rote?«
»Ja.«
»Das du so gerne gehabt hättest?«
»Ich wollte das Auto gar nicht«, beeilt er sich zu sagen.
»Ihr habt euch aber ein bisschen darüber gestritten.«
»Ich habe ihn bloß gefragt, ob er es gegen den Zinnsoldaten eintauschen wollte.«
»Aber das wollte er nicht?«
»Nein.«
»Und er hatte das Auto bei sich, als ihr losgezogen seid?«
»Ja.«
Er steht kurz davor, seiner Mutter zu erzählen, was er zu seinem Vater gesagt hatte, bevor sie zu diesem verhängnisvollen Gang aufgebrochen waren. Er hat das Auto nur erwähnt, weil er mit seiner Mutter darüber reden und sich das Herz erleichtern möchte, aber dann kann er sich nicht dazu durchringen. Er weiß nicht, warum. Vielleicht weil immer noch Hoffnung besteht, dass alles gut ausgeht. Dass Beggi gefunden wird – und dann spielt es keine Rolle mehr.
»Wir finden ihn«, sagt seine Mutter tröstend. »Mach dir keine Sorgen. Wir finden ihn, sobald das Wetter sich beruhigt hat. Sie sagen, dass es bald besser wird. Dann sind wir bereit, und wir werden Beggi finden. Es kommen noch mehr Leute, die uns bei der Suche helfen. Dann können wir alles besser organisieren. Wir finden ihn, da kannst du sicher sein.«
Er nickt.
»Jetzt versuch, dich auszuruhen, mein Junge. Versuch, so viel wie möglich zu schlafen. Du hast es nötig.«
Dann geht sie, und er bleibt allein mit seinen Gedanken zurück und hört draußen das Toben des Sturms. Er rüttelt am Haus, als wolle er es aus den Grundfesten heben, alle Türen aufreißen und es wegfegen. Er wälzt sich unablässig in seinem Bett und dämmert irgendwo zwischen Schlaf und Wachen, bis die Müdigkeit ihn übermannt, doch da bedrängen ihn schlimme Träume.
– – –
Er ist ganz allein im Haus, das einsam auf weiter Flur steht und schutzlos Wind und Wetter ausgesetzt ist. Türen hängen lose in den Angeln, Fenster sind zerbrochen, alles Leben ist daraus verschwunden, Möbel und Lampen, Licht und Farben. Das Haus ist dunkel und gespenstisch, tot. Die Wände sind kahl und abweisend, Wasser rinnt an ihnen herunter, als würden sie weinen.
Er blickt nach unten und sieht einen Mann im Schlafsack, der auf dem Boden liegt und eine Decke über sich gebreitet hat. Er beugt sich über ihn und will ihn berühren, da dreht sich der Mann auf einmal um, aber er blickt ihn nicht an, sondern wie durch ihn hindurch. Er fährt erschrocken hoch, er hat diesen Mann nie zuvor gesehen. Entsetzen packt
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