Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
frischen, duftenden Heu in der Scheune balgend.
Einige Erinnerungen riefen eine tiefe Sehnsucht in ihm hervor und gaben ihm keine Ruhe. Er stand am Grab, und er hörte aus der Ferne Klänge, eine traurige Melodie, die einst dem Instrument seines Vaters entströmt war. Er sah seine Mutter vor sich, die mit halb geschlossenen Augen in der Wohnzimmertür stand und lauschte. Ein langer Sommertag ging zur Neige, alle waren braun gebrannt, er und Bergur lagen auf dem Sofa. Sein Vater spielte eine leise, melancholische Weise auf seinem Instrument. Die Mutter legte den Kopf schief, lauschte und sah ihren Mann an.
»Spiel doch einmal etwas Fröhlicheres«, sagte sie.
»Die Jungen sind schon eingeschlafen«, antwortete er.
»Du brauchst ja nicht laut zu spielen.«
Er wechselte die Tonart und stimmte einen munteren Walzer an, den er aber sehr leise spielte. Sie stand immer noch an der Tür und hörte ihm lächelnd zu, ging dann zu ihm hinüber und zog ihn hoch. Er legte die Geige zur Seite und sie tanzten in der Stille.
Bergur an seiner Seite war eingeschlafen, aber Erlendur weckte ihn, und sie beobachteten heimlich ihre Eltern, die einander umarmt hielten und langsam tanzten. Sie flüsterten, um die Jungen nicht aufzuwecken, und seine Mutter unterdrückte ein Lachen. Sie lachte so gern. Bergur hatte das von ihr geerbt. Sie waren sich so ähnlich, die gleichen Gesichtszüge und das gleiche offene Lächeln. Bergur war immer guter Dinge gewesen, ganz anders als sein Bruder, der immer an allem etwas auszusetzen hatte, keinen Widerspruch duldete und Ansprüche stellte. Und er tat sich auch schwer damit, zu lächeln, er ähnelte seinem Vater, sowohl im Aussehen als auch vom Charakter her.
Mit dieser Erinnerung war eine Ahnung von Sommer verbunden, von frisch gemähtem Gras und sommerlicher Wärme. Tagsüber hatten er und Bergur am Fluss gespielt, waren flussaufwärts gelaufen, hatten die Hände ins Wasser getaucht und sich die Stirn gekühlt.
Das war der letzte Sommer, in dem sie noch zu viert gewesen waren.
Erlendur ließ seine Hand ein weiteres Mal über den verwitterten Basalt gleiten. Ein eisiger Wind strich vom Hang herunter und drang ihm bis unter seinen dicken Anorak. Er schaute zu den Bergen hinauf, zog die Jacke enger um sich und ging dann zurück in Richtung Tankstelle. Laut Wettervorhersage sollte es einen Kälteeinbruch in Ostisland geben. Der Wind bestätigte das. Er hatte auf ihn gewartet, und jetzt blies er in den Bergen wie ein kalter Todesbote.
Siebenundzwanzig
»Weshalb liegst du dort?«
Die Frage erschreckt ihn, er starrt in die Dunkelheit, aus der die Frage des Reisenden kommt.
»Bist du immer noch hier?«, fragt er.
»Ich bin immer noch hier«, hört er den Mann sagen.
»Weshalb? Was willst du von mir?«
»Ich gehe, wenn du gehst.«
»Woher kommst du?«, fragt er.
»Von weit her«, sagt der Fremde »Und ich gehe heute Abend zurück.«
Achtundzwanzig
Erlendur schreckte aus einem tiefen Schlaf hoch, aufgeweckt vom Geräusch eines Autos. Draußen war es bereits hell. Er hatte Probleme mit dem Einschlafen gehabt, er war erst gegen Morgen zur Ruhe gekommen, und nun hatte er einige Mühe damit, sich zurechtzufinden. Eine Autotür wurde zugeschlagen, und er hörte, wie der Schnee unter den Schuhen eines Mannes knirschte, der sich dem Haus näherte. Der Mann war allein gekommen. Erlendur stand auf. In einer Ecke des Hauses hatte sich Schnee gesammelt.
»Hallo!«, hörte er jemanden rufen und erkannte die Stimme gleich. Hinter einer zerbrochenen Scheibe kam Bóas’ Gesicht zum Vorschein.
»Stör ich?«, fragte er.
»Nein«, sagte Erlendur.
»Ich habe Kaffee und Gebäck für dich mitgebracht«, erklärte Bóas lächelnd. »Ich hatte das Gefühl, dass dir auf deinem verlassenen Hof ein bisschen Gesellschaft vielleicht guttun würde.«
»Hereinspaziert«, sagte Erlendur.
»In diese glanzvolle Hütte«, ergänzte Bóas und betrat das türlose Haus. Er hielt eine Thermoskanne und eine Tüte in der Hand. Erlendur roch sofort den Duft von frischen Plunderteilchen. »Ich hab vorsichtshalber zwei Kaffeebecher mitgebracht«, sagte Bóas. »Ich war mir nicht sicher, wie gut du ausgestattet bist.«
»Mir geht es hier nicht schlecht«, sagte Erlendur und nahm seinen Kaffeebecher entgegen.
Bóas betrachtete den Schlafplatz mit den Decken, dem Schlafsack und der Gaslampe. Alles sah so weit ordentlich aus, auch wenn es nicht gerade eine Hotelsuite war. Erlendurs Aschenbecher war überdimensional, er hatte
Weitere Kostenlose Bücher