Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
die Ladefläche gehievt.
»Ja«, entgegnete Erlendur. »Und sie ist auch diesmal dabei.«
»Wie bitte?«
Erlendur sagte keinen Ton, und auf einmal schien der Mann zu begreifen.
»Willst du damit sagen, dass …?«, sagte er und war so peinlich berührt, dass er den Satz nicht zu Ende bringen konnte. Diesmal fuhr er sehr viel vorsichtiger auf der harten Schotterstraße, und sie schwiegen die meiste Zeit.
Erlendur kannte den Pfarrer nicht, der die Beerdigung vornahm, aber er wirkte warmherzig. Sie hatten sich am Telefon über die wichtigsten Ereignisse im Leben seiner Mutter unterhalten, auf die er in seiner Rede eingehen wollte. Nur wenige wohnten der Zeremonie bei. Einige hatten seine Eltern gekannt, andere waren entfernte Verwandte, von denen Erlendur kaum etwas wusste.
Schließlich wurde der Sarg langsam in die Erde gesenkt.
»Du musst gut auf dich achtgeben«, hatte seine Mutter im Krankenhaus zu ihm gesagt. Als er kam, hatte sie im Fieberwahn gelegen und ihn nicht erkannt, doch dann war sie für einen Augenblick zu sich gekommen.
Erlendur nickte.
»Du denkst zu wenig an dich.«
»Mach dir keine Sorgen meinetwegen«, hatte er gesagt.
»Mein … mein lieber Junge …«
Mit diesen Worten auf den Lippen war seine Mutter eingeschlummert, aber kurze Zeit später wieder aufgewacht. Sie sah Erlendur neben ihrem Bett und versuchte zu lächeln. Sie fragte, ob er seinen Bruder gefunden hätte.
»Bring ihn zu uns … wenn du ihn findest …«
Im nächsten Augenblick war sie tot.
Er näherte sich langsam dem Grab seiner Eltern auf dem kleinen Friedhof und hinterließ Spuren im Schnee. Er hatte einen isländischen Basaltstein für das Grab zuhauen lassen, auf dem die Namen seiner Eltern mit den Geburts- und Todestagen standen und darunter ein schlichtes Gebet oder eine Bitte um Gnade, je nachdem, aus welcher Perspektive man es betrachtete. Ruhet in Frieden. Das Kreuz, das auf dem Grab seines Vaters gestanden hatte, bewahrte Erlendur bei sich zu Hause auf. Er hatte keine Ahnung, wie er es entsorgen konnte, denn auch nach all den Jahren hatte er sich noch immer nicht dazu aufraffen können. Auf dem Grabstein hatten sich Flechten angesiedelt, Vögel hatten sich auf ihm niedergelassen, scharfe Nordwinde und laue Südwinde hatten zum Verwitterungsprozess beigetragen. Die Zeit verschont nichts, dachte Erlendur und strich über den kalten Basalt. Er wusste, dass dieser Stein ihn für immer an diesen Ort binden würde.
Er hatte ihn selbst im Auto von Reykjavík nach Eskifjörður transportiert, damals noch über endlose holperige Schotterstraßen. Zwei Tage hatte er für die Strecke in den Osten gebraucht, mit Übernachtung in Akureyri. Da er immer einen gemeinsamen Stein für seine Eltern vorgesehen hatte, war auf der Grabstätte seiner Mutter nie ein provisorisches Kreuz aufgestellt worden. Er hatte die Sache viel zu lange vor sich hergeschoben, sich dann aber endlich einen Ruck gegeben und mit einem Steinmetz gesprochen. Etwas in seinem Inneren sträubte sich dagegen, in die Ostfjorde zu fahren. Die Erinnerungen an den Ort waren einfach zu schlimm. Aber nachdem er sich schließlich aufgerafft und auf den Weg gemacht hatte, schien der Bann gebrochen zu sein, und seitdem besuchte er seine alte Heimat regelmäßig und hielt sich dort kürzer oder länger auf. Er wusste, dass er nicht die geringste Chance hatte, vor seiner Vergangenheit zu fliehen.
Über viele Jahre hinweg hatte er versucht, sich das Leben zu der Zeit in Erinnerung zu rufen, bevor das Unheil über sie hereingebrochen war. Je mehr Zeit verstrich, desto besser gelang es ihm. Das meiste war zunächst ausgelöscht worden, nachdem Bergur verschollen war, so als hätte ihr Leben erst danach begonnen, doch im Laufe der Zeit kehrten die Erinnerungen an die Zeit vor dem Unglück zurück. Zum Teil waren es nur kleine Bruchstücke, die er weder zeitlich zuordnen noch in Zusammenhänge einfügen konnte, anderes war klarer, beispielsweise Feiertage wie Weihnachten, wenn sein Vater sich eine Weihnachtsmannmütze auf den Kopf setzte. Und der Weihnachtsbaum, den sie gemeinsam schmückten. Lange Winterabende vor dem Rundfunkgerät. Erinnerungen tauchten vor seinem inneren Auge auf wie flackernde Kerzenlichter. Eine Fahrt nach Akureyri. Eine Bootsfahrt auf die Insel Papey, er hatte Angst vor dem Wasser gehabt. Er auf dem Rücken eines Pferdes, das seine Mutter am Zügel führte. Heuernte. Männer vor dem Haus, Kaffee trinkend und rauchend. Er und Bergur, sich im
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