Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
war?«
»Ein Auge? Was? Ich …«
»Hast du ihr das gezeigt?«
»Was meinst du damit?«
»Hast du ihr Avancen gemacht? Hast du ihr zu verstehen gegeben, dass du Interesse hattest?«
»Nein. Ganz und gar nicht.«
»Du hast wirklich nichts in dieser Art unternommen?«
»Nein«, erklärte Ezra nach langem Schweigen. »Ob sie aber vielleicht etwas gespürt hat …«
»Du hattest also gar nichts dagegen, als sie Rat und Hilfe bei dir suchte?«
»Nein, wohl kaum.«
»Verhielt es sich vielleicht so, dass du deswegen ein schlechtes Gewissen hattest und dass Jakob das ausgenutzt hat? Du hast zu niemandem über die Beziehung zwischen dir und Matthildur sprechen wollen.«
Darauf gab ihm Ezra keine Antwort.
»Es muss eine große Erleichterung für dich gewesen sein, als er umkam«, sagte Erlendur.
Ezra schwieg immer noch.
»Oder vielleicht auch nicht, weil er der Einzige war, der von Matthildurs Verbleib wusste.«
»Ja.«
»Und das Geheimnis nahm er mit ins Grab.«
»Ja.«
»Warst du hier, als es passierte? Als Jakob ertrank?«
»Ja, ich kann mich gut daran erinnern.«
»Die Leiche wurde ins alte Eishaus gebracht.«
»Ja, und dann wurde er nach Djúpivogur überführt und dort begraben. Damit war das Ganze vorbei.«
»Hast du die Leiche gesehen?«
»Ja, ich habe damals im Eishaus gearbeitet.«
»Und du hast niemals in Erfahrung gebracht, wo die Leiche von Matthildur liegt?«
»Das habe ich nicht aus ihm herausbekommen. Es ist das Einzige, was ich gerne gewusst hätte, und jetzt ist es wohl nicht mehr sehr wahrscheinlich, dass ich noch eine Antwort bekomme.«
Erlendur blickte zum Fenster hinaus in Richtung der Berge, die nun im Dunkeln lagen.
»Wenn man es genau betrachtet, trage ich letzten Endes wohl tatsächlich die Schuld an ihrem Tod«, flüsterte Ezra. »Die Schuld lag bei mir. Mit diesem Wissen habe ich seitdem alle Tage meines Lebens leben müssen.«
Sechsunddreißig
Am Tag, an dem der Umzug nach Reykjavík stattfinden soll, kommt er ein letztes Mal von den Bergen herunter und hilft seinem Vater mit dem Gepäck. Diesmal hatte er nicht nach Spuren gesucht wie so oft zuvor, sondern sich von einer Welt verabschiedet, die das Andenken an seine glücklichsten und schmerzlichsten Erfahrungen bewahrt. Er ist in aller Herrgottsfrühe losgezogen und hat darauf geachtet, seine Eltern nicht zu wecken. Auch wenn es ein schöner Sommertag ist, möchte seine Mutter nicht, dass er allein in den Bergen herumkraxelt, wie sie sich ausdrückt. Es ist erst zwei Jahre her, seit sie dort oben ihren jüngsten Sohn verlor, und der ältere darf nicht dasselbe Schicksal erleiden. Aber nicht nur deswegen ziehen sie jetzt weg, es sind auch noch andere Gründe hinzugekommen.
Sein Vater ist schweigsam wie immer. Er trägt ihre Besitztümer zu einem Lieferwagen mit Ladefläche. Der Wagen ist ziemlich neu, er ist nach Reykjavík verkauft worden, und sein Vater hat es übernommen, ihn dort hinzubringen. Dafür dürfen sie ihr Umzugsgut darauf transportieren. Nur das Notwendigste wird mitgenommen, Betten und Tische und Stühle und Familienerbstücke, die nicht verloren gehen dürfen. Sie haben vor, die übrige Einrichtung in der Hauptstadt zu kaufen. Ihre Tiere sind verkauft worden, ebenso die Mähmaschine und der Heuwagen. Seine Mutter nimmt ihre fußbetriebene Nähmaschine mit, weil sie der Ansicht ist, dass sie überall auf der Welt gut zu gebrauchen ist. Immer ist sie es, die versucht, die Atmosphäre etwas zu lockern. Er weiß, dass es sie manchmal große Anstrengung kostet, und oft genug ist sie auch gar nicht dazu imstande. Beispielsweise, als das Bett von Bergur abgeholt wird. Sie haben es einer bedürftigen Familie überlassen, und als die jungen, schüchternen Leute eintreffen, um es abzuholen, beschäftigt sich meine Mutter in der Küche. Es wäre absurd, es mitzunehmen, hatte sie gesagt. Und diese Leute können es gut brauchen. Doch andere Habseligkeiten von Bergur gibt sie zeit ihres Lebens nicht her.
Erlendur weiß nicht genau, wann sie sich entschlossen haben, nach Reykjavík zu ziehen. Erst vor etwa einem halben Jahr hat er das erste Mal gehört, dass seine Eltern darüber redeten. Die Idee stammt von seiner Mutter, sie will hier weg. Und es reicht ihr nicht, in eine andere Landgemeinde oder einen anderen Landesteil zu ziehen. Alles in der Natur erinnert sie an den Sohn, den sie verloren hatte. Sie will so weit wie möglich weg, an einen Ort, wo sie aus ihrem Dämmerzustand erwachen und sich erneut
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