Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
Musik. Sein Vater war dabei, sich für den Fußmarsch durch die Berge warme, wetterfeste Sachen anzuziehen, als er an diesem Morgen zu ihm kam. Er hatte am Abend zuvor darüber gesprochen, dass er die Schafe in den Bergen finden müsste, bevor sie erfrieren würden, anscheinend hatten sie nicht vor, aus eigenem Antrieb ins Tal zu kommen. Sein Vater stand in der Tür zum Flur, zog sich gerade die dicke Jacke an und sagte Erlendur, er solle mit ihm in die Berge gehen. Er müsse sich aber warm anziehen, es sei kalt draußen.
»Dann muss Bergur aber auch mit«, war Erlendurs prompte und völlig unüberlegte Reaktion gewesen.
Sein Vater sah ihn an. Es war klar, dass er nicht vorgehabt hatte, den jüngeren Sohn ebenfalls mitzunehmen. Er hatte an so vieles andere zu denken.
»Na schön, dann kommt er auch mit.«
Die Sache war abgemacht, mehr Worte fielen nicht. Ihre Mutter hatte Bedenken gehabt, aber sie konnte nichts ausrichten. Beide Jungen begleiteten ihren Vater. Erlendur triumphierte.
Doch der Triumph sollte nur kurz währen.
Denn dieser Satz ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, als er gerettet wurde und erfuhr, dass man Bergur nicht gefunden hatte. Er kann kaum glauben, dass er das wirklich gesagt hat. Trägt er die Verantwortung? Ein überwältigendes Schuldgefühl ergreift Besitz von ihm und mischt sich mit einem anderen Gefühl, das ihn beschlich und mit der Zeit immer intensiver wurde. Wenn Bergur nicht gerettet werden konnte, dann hat er es auch nicht verdient. Er verkrampft sich am ganzen Körper und begann haltlos zu zittern. Er steht unter Schock. Der Arzt wird geholt.
Dann muss Bergur auch mitkommen!
Sein Vater ruft nach ihnen, sie stehen immer noch am Straßenrand. Er ist bereit, loszufahren. Seine Mutter winkt ihm, dass sie kommen. Sie will kehrtmachen, aber Erlendur hält ihre Hand fest und hindert sie daran.
»Was ist los?«, fragt sie.
Er blickt ihr ins Gesicht. Das Herz hämmert in seiner Brust. Er hat schreckliche Angst davor, es zu sagen. Was für Folgen wird das haben? Darüber hat er sich an dunklen Wintertagen und in schlaflosen Nächten wieder und wieder den Kopf zerbrochen. Er kann sich nicht vorstellen, wie sie darauf reagieren wird. Es übersteigt seine jungen Kräfte.
»Komm«, sagt sie. »Wir müssen los.«
Immer noch umklammert er die Hand seiner Mutter. Sie weiß nicht, dass er die Schuld daran trägt, dass Bergur mit ihnen ging. Die Worte sind ihm schon auf den Lippen, er muss sie nur noch aussprechen. Seine Augen füllen sich mit Tränen. Seine Mutter spürt, dass etwas nicht stimmt. Sie streicht ihm die Haare aus der Stirn.
»Was ist denn los, mein Junge?«, fragt sie.
Er weiß nicht, was er darauf antworten soll.
»Willst du nicht von hier fort?«
Sein Vater sitzt bereits wieder im Wagen und hat den Motor angelassen. Durch die Windschutzscheibe beobachtet er sie. Der Mann von der Tankstelle, der ihn bedient hat, sieht ebenfalls zu ihnen herüber. Die ganze Welt scheint sie anzustarren.
»Erlendur?«
Er sieht die besorgte Miene seiner Mutter. Auf keinen Fall will er ihr noch mehr Sorgen machen. Auf gar keinen Fall. In ihr Leben ist wieder Ruhe eingekehrt und eine Art Aussöhnung.
Sein Vater betätigt die Hupe.
Der Augenblick ist vorbei. Er reißt sich zusammen, wischt sich über die Augen.
»Es ist schon in Ordnung«, sagt er. »Ich hab was ins Auge bekommen.«
Sie gehen zurück zum Lieferwagen. Der Mann an der Pumpe ist verschwunden. Sein Vater starrt geradeaus, beide Hände auf dem Lenkrad. Auf sie wartet eine lange Fahrt auf schlechten Straßen.
Erlendur sitzt stumm zwischen seinen Eltern, als sie die Brücke, die über den See führt, überqueren.
Von nun an wird er sich seiner Verantwortung schweigend stellen.
Siebenunddreißig
Ezra hatte ihm einen Fuchsjäger genannt, den Bóas nicht erwähnt hatte, als Erlendur ihn nach Leuten in der Gegend fragte, die sich mit Fuchsbauen auskannten. Dafür konnte es nach Ezras Ansicht nur eine Erklärung geben, nämlich dass Bóas eine solche Abneigung gegen diesen Bauern hatte, dass er ihn nicht einmal beim Namen nennen wollte. Grund dafür war ein alter Streit über ein Stück Land, das Bóas geerbt hatte. Es grenzte an das Land dieses Mannes, und der Streit um den genauen Verlauf der Grenzen war bis vor Gericht gegangen. Bóas hatte mit Glanz und Gloria verloren und hoch und heilig geschworen, nie mehr ein Wort mit diesem Mann zu reden, und daran hatte er sich auch mindestens ein Vierteljahrhundert gehalten.
Der Bauer
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