Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
dem Leben stellen kann, einen fremden Ort, der sie fordert und vollkommen anders ist als alles, was sie kennen. Das ist Reykjavík.
Sein Vater hat nicht viel dazu zu sagen, er kann sich nur einverstanden erklären. Er ist nicht mehr derselbe, seit er mehr tot als lebendig aus den Bergen zurückkam. Nicht nur, weil er seinen Sohn verloren hat. Er hatte auch selbst dem Tod ins Auge geschaut. Er weiß, dass seine Tage gezählt sind. Diese Nähe zum Tod hat ihn nicht weniger beeinflusst als der Verlust des Sohnes. Allem Anschein nach hatte er sich damit abgefunden zu sterben, diesen Schachzug des Herrn zu akzeptieren. Er stimmt dem Umzug zu, größtenteils durch Schweigen.
Sie sprechen mit Erlendur, der sich zunächst gegen dieses Vorhaben sträubt. Ihm kommt es so vor, als würden sie Bergur verraten, als würden sie ihn hier allein zurücklassen. Seine Mutter sagt, dass der Gedanke vollkommen abwegig ist. Er werde immer bei ihnen sein und nie aus ihren Herzen verschwinden. Sie sagt ihm, dass es eine Änderung in ihrem Leben geben muss, dass sie etwas anderes in Angriff nehmen müssen, um weiter zusammenleben zu können. Der Verlust darf nicht ihr täglicher Begleiter sein.
Er hat im Grunde genommen keine Wahl. Was weiß ein zwölfjähriger Junge über Reykjavík? Dort gibt es mehr Autos und größere Geschäfte, als er sich vorstellen kann, und riesengroße Häuser, die Wohnblocks heißen, wo die Menschen etagenweise übereinanderwohnen. Dort gibt es mehr Häuser, als er zählen kann, und Viertel mit Nissenhütten und Ratten, breite Straßen und Polizisten, die den Verkehr regeln. Kinos und Theater. Und es gibt unheimlich viele Menschen und etwas, was seine Mutter Modegeschäfte nennt. Und Schulen mit hundert Kindern, wo den ganzen Winter unterrichtet wird. Eine bedrohliche Vorstellung. Die Stadt fasziniert ihn nicht. Er hat gehört, dass manche Menschen davon träumen, dorthin zu gehen. Zu denen gehört er nicht.
Und dann ist der Sommertag da, an dem sie zum letzten Mal die Tür schließen. Seine Mutter schlägt zum Abschied ein Kreuzzeichen an der Tür, dann setzen sie sich in den Lieferwagen und fahren die Auffahrt hinunter. Er sitzt zwischen den Eltern, kein Wort wird gesprochen, während Bakkasel in der Ferne verschwindet. Das Schweigen reist mit ihnen bis Egilsstaðir, wo sein Vater bei einer Tankstelle hält und laut verkündet: Ich muss Diesel tanken. Seine Mutter will sich in der Zwischenzeit ein wenig die Beine vertreten. Erlendur geht hinter ihr, er ist zu alt, um sich noch an der Hand halten zu lassen, hier vor allen Leuten. Sie bleibt am Straßenrand stehen und betrachtet den Lagarfljót, den See, dessen Abfluss schon seit Tausenden von Jahren zum Meer strömt. Und dort beginnt sie endlich zu weinen, so leise, dass er es kaum hört.
Er greift verstohlen nach ihrer Hand.
»Nicht weinen«, sagt er.
»Nein, es ist nichts«, flüstert seine Mutter.
Er bleibt bei ihr stehen und rührt sich nicht. Das wird ihr letzter gemeinsamer Augenblick in der alten Heimat sein, dann werden sie für immer fort sein. Das ist der Moment, es zu sagen, denkt er.
»Ich glaube, wir tun das Richtige«, sagt sie und zieht ein kleines Tuch aus ihrer Tasche. »Aber man weiß ja nie. Ich weiß nicht, in was ich euch da hineinziehe.«
»Wir hören nie auf, an ihn zu denken«, sagt er.
»Nein, natürlich nicht«, sagt sie. »Selbstverständlich nicht.«
Sie bleiben noch eine Weile am Ufer des Sees stehen, und er muss ein weiteres Mal an das denken, was er zu seinem Vater gesagt hat, bevor sie in die Berge gingen. Alles wegen dieses verflixten Spielzeugs und der Streitigkeiten mit Bergur, die angefangen hatten, als er das kleine rote Auto bekommen hatte. Er hat seiner Mutter immer noch nicht erzählt, was er gesagt hat, und auch nicht, wie sehr ihn seitdem sein Gewissen plagt, so als wäre all das andere nicht schon schrecklich genug für ihn. Und doch ist inzwischen schon so viel Zeit vergangen, zwei Jahre eines kurzen Lebens. Sein Vater scheint vergessen zu haben, was Erlendur an diesem Tag zu ihm gesagt hat. Vielleicht erinnert er sich, will aber nicht darüber reden. Er ist kein gesprächiger Mann und spricht nie über Vergangenes.
Erlendurs Blicke wandern über den See. Jenseits davon, viel weiter, als das Auge reicht, weiter als seine Fantasie sich ausmalen kann, liegt seine Zukunft.
Er sieht seine Mutter an und denkt an Zuhause. Erinnert sich an alle Einzelheiten. Aus dem Radio in der Küche erklang
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