Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
untersucht werden sollten. Eines dieser Details war Ezras früherer Arbeitsplatz, ein anderes eine unbedeutende Bemerkung, die in einem Gespräch gefallen war, ohne dass Erlendur sich daran gestoßen hätte. Wahrscheinlich hätte er sie auch wieder vergessen, wenn da nicht der Wind gewesen wäre, der unentwegt um das Haus pfiff. Er hatte dem Heulen eine ganze Weile gelauscht und überlegt, an was es ihn erinnerte, als plötzlich dieser Satz wieder in seiner Erinnerung auftauchte: Jemand hatte ein Geräusch aus Jakobs Sarg gehört. Und das dritte Detail betraf eine Äußerung von Ezra, als sie über Jakobs Tod und die Aufbewahrung der Leiche im Eishaus gesprochen hatten, wo Ezra gearbeitet hatte. Eine unschuldige Antwort auf die Frage nach dem Verbleib von Matthildur, der ganz bedeutungslos klang: Ich habe es nicht aus ihm herausbekommen .
»Kann das sein?«, flüsterte Erlendur in die Dunkelheit hinein.
Er sprang von seinem Campinghocker auf.
»Hat er damit gemeint, als Jakob im Eishaus lag? War es wirklich im Eishaus?«, fragte er laut.
Der Abend verstrich, und je mehr Erlendur über diese drei unbedeutenden Details nachdachte und sie miteinander in Verbindung zu bringen versuchte, desto ratloser wurde er. Schließlich entsorgte er die letzte Zigarette in den Melkeimer und kam zu dem Ergebnis, dass er Hrund wohl noch ein weiteres Mal belästigen musste.
Neununddreißig
Mitten in der Nacht schreckt er jäh aus einem Traum auf und starrt auf die schwache Helligkeit, die vom Gasbrenner ausgeht. Das Dunkel dahinter ist undurchdringlich, aber irgendwie spürt er immer noch die Nähe des Jungen aus dem Traum. Zunächst weiß er überhaupt nicht, ob er wirklich eingeschlafen ist, ob es tatsächlich ein Traum war oder etwas anderes. Einen kurzen Moment lang ist er verstört, aber dann überkommt ihn eine seltsame Ruhe, als ihm klar wird, dass es sich um eine Traumerscheinung gehandelt hat. Merkwürdigerweise ist sie wie das Spiegelbild oder die Wiederholung eines Traums aus den schwersten Tagen seiner Kindheit, den er niemals hat vergessen können.
In dem Traum, aus dem er gerade so heftig aufschreckte, liegt er auf der Seite in seinem Schlafsack und hat eine Decke über sich gebreitet. Er ist allein im Haus, das Wind und Wetter schutzlos ausgesetzt ist. Es ist dunkel und unheimlich, und die Wände sind nackt und kalt, an ihnen rinnt Wasser herunter, als würden sie weinen. Plötzlich spürt er hinter sich die Nähe eines Menschen. Er dreht sich langsam um und starrt in die Finsternis, kann aber nichts erkennen. Bis sich vor ihm die Gestalt eines Jungen abzeichnet, der ihm in die Augen blickt.
Dann verschwindet die Gestalt wieder.
Erlendur liegt wach im Finsteren und denkt über den Traum nach, der ihn schon einmal vor langer Zeit aufschrecken ließ. Er kennt den Jungen, der im Traum zu ihm kam, er weiß, dass er es selbst ist.
Vierzig
Hrund lag schlafend in ihrem Zimmer, als er sie gegen Mittag im Krankenhaus in Neskaupstaður besuchte. Er wollte sie nicht wecken, deswegen setzte er sich auf einen Stuhl am Bett und wartete darauf, dass sie aufwachte. Ihm war immer noch nicht wieder richtig warm geworden, nachdem er in aller Herrgottsfrühe aufgewacht war und kalten Kaffee getrunken hatte. Kurze Zeit später hatte er versucht, sich in seinem Jeep aufzuwärmen, bevor er in den Ort fuhr und den Eintritt für das Schwimmbad bezahlte. Das hatte er praktisch jeden Morgen gemacht, seit er in die Ostfjorde gekommen war, aber er ging immer nur unter die Dusche, er hatte nie auch nur einen Zeh in das Schwimmbecken getaucht. Die Angestellten kümmerten sich nicht weiter um ihn, sie grüßten ihn höchstens, legten aber keinerlei Neugierde an den Tag oder versuchten, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Diesmal hatte er sich länger als gewöhnlich unter der heißen Dusche aufgehalten, um wieder warm zu werden, und nach dem Anziehen war er zur Tankstelle gefahren, hatte dort eine Kleinigkeit gefrühstückt, seine Thermosflasche mit Kaffee gefüllt und war anschließend auf dem direkten Weg nach Neskaupstaður gefahren.
Seine Gedanken kreisten die ganze Zeit um die Schlussfolgerungen, die sich am Abend vorher bei seinen Überlegungen herauskristallisiert hatten. Zunächst war einige Spannung in ihm aufgekommen, doch dann ließ sein Interesse nach. Je mehr er darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher kam es ihm vor, dass seine Überlegungen richtig waren. Sollten sie wirklich stimmen, würde er einige Annahmen, die er
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