Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
ins Grab genommen. Doch für Ezra hatte die Geschichte dadurch kein Ende gefunden, denn auch nach sechzig Jahren konnte man ihm anhören und ansehen, wie nahe ihm die Ereignisse immer noch gingen. Er war alt geworden und betonte ständig, dass er bald sterben würde. Er ging offensichtlich nicht mehr davon aus, das Ende der Geschichte noch zu erleben, falls Matthildur überhaupt je gefunden werden würde. Und Ezra hatte gesagt, dass er schon seit Jahrzehnten nicht mehr nach ihr suchte.
Erlendur goss sich Kaffee nach und trank ihn mit vorsichtigen Schlucken. Jakob war nicht nur mit einem Mord durchgekommen, er hatte es sogar so eingefädelt, dass er die Tat Ezra gegenüber ganz offen hatte zugeben können, nur um ihm das Leben zur Hölle zu machen. Ezra waren die Hände gebunden gewesen. Jakob hatte von den Umständen profitiert, die der Zufall ihm beschert hatte – das tobende Unwetter und das Schicksal der britischen Soldaten. Mit unglaublicher Kaltschnäuzigkeit hatte er sich die Geschichte von Matthildurs Wanderung über die Irrlichtscharte ausgedacht. Und er hatte sich Ezras Schwächen zunutze gemacht, seine Liebe zu Matthildur und seine Schuldgefühle wegen des Verrats an Jakob.
Es gab nur einen auffälligen Schwachpunkt an Ezras Geschichte – niemand konnte sie bestätigen. Es gab keine Zeugen, er hatte mit niemandem über die Ereignisse gesprochen, nur er wusste, was geschehen war. Man konnte wohl davon ausgehen, dass seine Darstellung der Wahrheit entsprach, aber das beruhte einzig und allein auf seiner eigenen Glaubwürdigkeit.
Erlendur überlegte, ob er es nicht einfach dabei belassen sollte. Seine Nachforschungen hatten einiges zutage gefördert, auch wenn er gar nicht offiziell ermittelte. Es ging ihm darum, den eigenen Wissensdrang zu befriedigen, denn ihm war klar, dass hier niemand mehr zur Rechenschaft gezogen werden konnte, da über diesen Fall bereits ein ganzes Menschenleben lang der Mantel des Schweigens gebreitet worden war.
Da war etwas an der Geschichte mit Matthildur, was Erlendur anrührte. Es war ein Schicksal, das ihm naheging und ihm das Gefühl gab, er sei irgendwie involviert. Er wusste nicht ganz genau, was das war. Möglicherweise Ezras trauriges Leben, diese Traurigkeit, die jedem auffallen musste, der ein wenig genauer hinsah. Sein Leben war nur noch ein Scherbenhaufen, nachdem die geliebte Frau aus ihm verschwunden war. Auch wenn sich seine Geschichte als wahr erwies, würde Erlendur nie mehr als die Hälfte davon erfahren. Kaum jemand anderes wusste so gut wie er, wie entsetzlich es war, mit einer Geschichte leben zu müssen, die kein Ende gefunden hatte.
Er dachte an Jakobs Rache. Er hatte Ezra in eine Falle gelockt und ihm das Gefühl gegeben, er sei mitschuldig, auch wenn Ezra sich nichts hatte zuschulden kommen lassen. Jakobs Verbrechen war im Affekt geschehen, ein Eifersuchtsdelikt. Bei derartigen Affekthandlungen gab es meist keine durchdachte Planung, es handelte sich um Kurzschlusshandlungen in der Hitze des Augenblicks. Doch alles, was sich danach abgespielt hatte, war eiskalt kalkulierte Rache gewesen. Jakob hatte dafür gesorgt, dass derjenige, der seiner Ansicht nach die Schuld an allem trug, nie wieder einen frohen Tag erleben würde.
Vielleicht war es diese Liebesgeschichte, die Erlendur wachhielt. Die Liebe zwischen Matthildur und Ezra hatte nie eine Chance gehabt, sie war aus heiterem Himmel heraus buchstäblich erstickt worden.
Am Nachmittag hatte der Wind aufgedreht, und nun pfiff er heulend durchs Dachgebälk. Erlendur trank einen Schluck Kaffee und versuchte, all das zu rekapitulieren, was er in den Gesprächen mit den Leuten herausgefunden hatte, mit denen er über Matthildur, Ezra und Jakob gesprochen hatte. Seine Gedanken reihten sich aber nicht systematisch oder methodisch aneinander, ganz im Gegenteil – die Menschen, die er kennengelernt hatte, deren eigene Hintergründe und Lebensumstände, alles schmolz zusammen mit dem berüchtigten Nebel der Ostfjorde und dem blütenweißen Niederschlag, mit seinem Aufenthalt auf dem verlassenen Hof, mit Wanderungen und Autofahrten, mit den riesigen Frachtern, die in den Fjord einliefen, und dem unübersehbaren Aufschwung, der ein ständiger Anlass zur Verwunderung war. All das ging ihm im Kopf herum, bis seine Gedanken schließlich immer wieder an drei relativ unbedeutenden Details hängen blieben, denen er bislang keine Beachtung geschenkt hatte, die aber im Gesamtzusammenhang vielleicht doch einmal
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