Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
bisher gemacht hatte, überdenken müssen, vor allem im Hinblick auf seine Einschätzung von Ezra. Seit seinem letzten Fall wusste er allerdings sehr viel mehr über Kälte und ihren Einfluss auf den menschlichen Körper, vor allem auf das Herz und den Blutkreislauf. Er wusste, wie man die Körperfunktionen verlangsamen und praktisch zum Stillstand bringen konnte, ohne dass es den Tod zur Folge hatte oder nachhaltige Schäden entstanden, wenn rechtzeitig eingegriffen wurde.
Hrund öffnete die Augen und sah, dass sie Besuch hatte. Sie richtete sich im Bett auf.
»Du schon wieder?«, fragte sie.
»Ich werde dich nicht lange stören«, sagte Erlendur.
Hrund streckte ihre Hand nach dem Wasserglas aus.
»Das ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Mich kommen hier nicht viele besuchen.«
»Vielleicht komme ich aber nicht nur aus purer Nächstenliebe«, gestand Erlendur.
»Das war mir auch schon eingefallen, ich bin noch ziemlich klar im Kopf. Um was geht es diesmal?«
»Das ein oder andere, worüber ich mir den Kopf zerbreche«, sagte Erlendur.
»Damit wirst du wohl nie aufhören.«
»Ich bin noch einmal zu Ezra gegangen, und wir haben lange miteinander gesprochen. Ihm geht es nicht gut, und das bereits seit sehr langer Zeit.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.«
»Wir haben viel über Jakob gesprochen, seinen Freund.«
»Hat er dir etwas mehr über Matthildur sagen können?«
Erlendur überlegte. Das Vertrauen, das Ezra ihm und niemand anderem geschenkt hatte, durfte er unter gar keinen Umständen missbrauchen. In solchen Fällen musste man entweder die Wahrheit ein wenig zurechtbiegen oder irgendwelche Ausflüchte machen, egal, mit wem man es zu tun hatte.
»Er hat sehr viel über Matthildur gesprochen. Wie sehr er sie sein ganzes Leben lang vermisst hat. Er hat sie sehr geliebt. Hat es nach Matthildur jemals eine andere Frau in seinem Leben gegeben?«
»Nein, nie«, sagte Hrund. »Ezra hat immer allein gelebt. Weiß er mehr über das Schicksal meiner Schwester?«
»Nichts Konkretes«, sagte Erlendur. »Vielleicht wird sich aber mit der Zeit doch noch eine Erklärung finden.«
»Wenn du mir nichts zu sagen hast, weshalb bist du dann gekommen?«
»Wegen Ezra«, sagte Erlendur. »Hast du mir nicht gesagt, dass er im Eishaus in Eskifjörður gearbeitet hat, nachdem er nicht mehr zur See fuhr? Nachdem er nicht mehr mit Jakob zum Fischen hinausfuhr?«
Hrund dachte nach.
»Kann gut sein, dass ich dir das gesagt habe. Ich weiß, dass er in den Jahren nach dem Krieg dort Aufseher war, wenn du das meinst.«
»Er hat also dort gearbeitet, als Jakob und sein Kumpel Schiffbruch erlitten haben? Als das Boot gekentert ist? Damals sind doch zwei ums Leben gekommen?«
»Ja, das war 1949. Sie sind ertrunken, als sie bei einem furchtbaren Sturm den Hafen anzusteuern versuchten. Beide.«
»Und die Leichen wurden ins Eishaus gebracht?«
»Ja, irgendwie meine ich, mich daran erinnern zu können.«
»Wo Ezra arbeitete?«
»Ja. Aber das kannst du doch auch in den Zeitungen von damals nachlesen, wenn du es so genau wissen willst. Die Bibliothek hier ist ganz gut. Was ist in dich gefahren?«
»Nichts.«
»Was meinst du damit, wo Ezra arbeitete?«
»Da ist aber noch etwas anderes«, sagte Erlendur.
»Was?«
»Jakob wurde in Djúpivogur beigesetzt.«
»Ja, das stimmt.«
»Wie kann ich die Namen der Sargträger herausbekommen?«
»Was soll das denn jetzt?«
»Ich brauche ihre Namen.«
»Wieso?«
Erlendur antwortete nicht.
»Wieso willst du ihre Namen wissen?«
Erlendur sah Hrund immer noch schweigend an.
»Du willst es mir also nicht sagen?«, fragte sie.
»Vielleicht später«, antwortete Erlendur. »Im Augenblick weiß ich selber kaum, was ich tue.«
Kurze Zeit später saß er in der Bibliothek von Neskaupstaður und blätterte in alten Zeitungen, die die junge und hilfsbereite Bibliothekarin für ihn anschleppte. Erlendur ging sowohl die Zeitungen durch, die landesweit herauskamen, als auch die lokalen Blätter aus der Zeit, als der Unfall stattgefunden hatte. Er fand zwei relativ ausführliche Schilderungen des Schiffbruchs, die zwar bestätigten, was er gehört hatte, aber keine neuen Erkenntnisse brachten. Von den beiden Männern, die ums Leben gekommen waren, hieß es, sie seien alleinstehend gewesen, der eine stammte ursprünglich aus Grindavík, der andere aus Reykjavík, hatte aber Verwandtschaft in den Ostfjorden. Seine Beerdigung hatte zwei Tage nach dem Unfall stattgefunden.
Bei einer der
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