Eisfieber - Roman
wie einen Sack Kartoffeln, dachte sie. Kultivierte Menschen wie wir verstehen sich nicht auf Gewalttätigkeiten – das ist es ja, was sie kultiviert macht …
Die Antwort war die gleiche wie zuvor: Miranda musste unbedingt ein Telefon auftreiben und Hilfe herbeirufen. Und das bedeutete, dass sie ungesehen ins Gästehaus kommen musste. Sie musste unter dem Bett hervorkriechen, das Schlafzimmer verlassen, die Treppe hinunterschleichen – und konnte nur hoffen und beten, dass die Gangster in der Küche sie nicht hörten und keiner von ihnen zufällig auf den Flur herauskam und sie ertappte. Sie musste sich einen Mantel und Stiefel schnappen – barfuß, wie sie war, und mit nichts auf dem Leib außer ihrem Baumwollnachthemd käme sie in einem Blizzard bei über einem halben Meter Neuschnee auf dem Hof keine drei Meter weit. Sie würde ums Haus herumstapfen und sich dabei von allen Fenstern fern halten, unbemerkt ins Gästehaus schlüpfen und ihr Handy holen müssen. Immerhin wusste sie genau, wo es war: Es steckte in ihrer Handtasche, und die stand gleich neben der Tür auf dem Fußboden.
Sie versuchte sich zu beruhigen. Wovor habe ich eigentlich Angst, fragte sie sich. Es ist die Anspannung, dachte sie, dieser grässliche, lähmende Stress. Dabei wird es gar nicht lange dauern: In einer halben Minute bin ich unten, Stiefel und Mantel anziehen dauert vielleicht eine Minute, und selbst durch den Schnee brauche ich zum Gästehaus allenfalls zwei oder drei Minuten. In knapp fünf Minuten bin ich am Ziel …
Eigentlich ist es empörend, dachte sie. Was nehmen sich diese Leute heraus, mich so in Angst und Schrecken zu versetzen, dass ich mich nicht einmal mehr traue, um mein eigenes Elternhaus herumzugehen …? Sie war jetzt wütend, und die Empörung verlieh ihr neuen Mut.
Zitternd schlüpfte sie unter dem Bett hervor. Die Schlafzimmertür stand offen. Miranda spähte hinaus, sah, dass die Luft rein war, und trat auf den Treppenabsatz hinaus. In der Küche waren Stimmen zu hören. Sie sah hinunter.
Am Fuß der Treppe gab es einen Garderobenständer. Die Mäntel und Stiefel waren größtenteils in einem Schrank in der Stiefelkammer vor der Hintertür verstaut. Nur Vater ließ seine Sachen immer im Flur – sein alter blauer Anorak war folglich auch das einzige Kleidungsstück am Garderobenständer. Darunter standen die mit Leder eingefassten Gummistiefel, die Stanleys Füße warm hielten, wenn er mit Nellie spazieren ging.
Das müsste eigentlich reichen, damit ich auf dem Weg ins Gästehaus nicht erfriere, dachte Miranda. Den Anorak überzuwerfen, in die Stiefel zu schlüpfen und durch die Hintertür hinauslaufen – das kostet mich nicht mehr als ein paar Sekunden …
Wenn ich den Mut dazu aufbringe.
Auf Zehenspitzen ging sie die Treppe hinunter.
Die Stimmen, die aus der Küche drangen, wurden lauter. Man stritt sich. Miranda erkannte Nigels Stimme: »Dann such eben noch mal, zum Teufel!« Sollte das heißen, dass jemand das Haus von oben bis unten durchkämmen würde? Miranda machte kehrt und lief die Treppe wieder hinauf, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend. Kaum war sie oben, hörte sie unten im Flur schwere Stiefelschritte – Daisy.
Zurück unters Bett konnte sie nicht, das war unmöglich. Beim zweiten Mal sah Daisy bestimmt überall gründlicher nach. Miranda verschwand im Schlafzimmer ihres Vaters. Es gab noch ein Versteck – den Dachboden. Mit zehn Jahren hatte sie sich dort einen Schlupfwinkel eingerichtet. Alle Geschwister hatten das irgendwann einmal getan – wenn auch zu jeweils unterschiedlichen Zeiten.
Die Schranktür im Ankleideraum stand offen.
Miranda hörte Daisys Tritte auf dem Treppenabsatz.
Sie ließ sich auf die Knie fallen, kroch in den Schrank, öffnete die kleine Tür, die auf den Dachboden führte, drehte sich um, schloss die Schranktür hinter sich, schob sich in gebückter Haltung rückwärts durch die niedrige Tür und machte sie wieder zu, als sie das Versteck erreicht hatte.
Im gleichen Augenblick ging ihr siedend heiß auf, dass sie einen möglicherweise fatalen Fehler gemacht hatte. Erst vor einer Viertelstunde hatte Daisy das Haus durchsucht. Dabei musste ihr aufgefallen sein, dass die Tür zu dem Schrank mit Vaters Anzügen offen stand. Würde sie sich jetzt daran erinnern und daraus folgern, dass irgendjemand die Tür geschlossen haben musste? Und war sie intelligent genug, der Sache auf den Grund zu gehen?
Im Ankleidezimmer waren nun Schritte zu hören.
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