Eisige Naehe
Druck setzen konnten, womit dann?« »Sie haben noch gar nicht getrunken.« Henning und Santos tranken und stellten die Gläser kommentarlos wieder auf den Tisch. »Also, womit hatten Sie Ihren Mann in der Hand?« »Eine Woche nach dem Vorfall war ein Foto von Nele in der Zeitung. Sie war tot, die Polizei ging davon aus, dass sie sich das Leben genommen hat oder Opfer eines Unfalls geworden war. Außerdem wurde gefragt, ob irgendjemand Angaben zur Herkunft des Mädchens machen könne. Das war für mich ein Schock. Ich machte mehrere Kopien von dem Artikel und versteckte sie überall im Haus ...«
»Aber spätestens dann hätten Sie doch zu uns kommen können ...«
»Frau Santos, ich bitte Sie, was hätte ich denn sagen sollen? Hier, ich kenne das Mädchen, sie heißt Nele und war vor einer Woche bei uns im Haus? Mein Mann hat sich an ihr vergangen! Wem hätten Sie wohl mehr geglaubt, mir oder dem großen Produzenten?«
Santos senkte für einen Moment den Blick, denn sie wusste, dass Victoria Bruhns recht hatte, keiner hätte ihr Glauben geschenkt. Und keiner hätte Ermittlungen gegen Bruhns eingeleitet. Er kannte Gott und die Welt, und zu diesen Göttern zählten auch Staatsanwälte und Richter. Es wäre nie zu einer Ermittlung, geschweige denn zu einem Verfahren oder gar einer Verurteilung gekommen. Sie erinnerte sich nur zu genau an diesen Fall, wie das namenlose Mädchen von Gleisbauarbeitern in einem Gebüsch neben einer Reihe von Güterwagons gefunden worden war, im Arm einen Teddybär, der zarte Körper von unzähligen Misshandlungsspuren übersät, Hämatome, Brandmarken von ausgedrückten Zigaretten, Knochenbrüche, die meisten davon alt, aber schlecht verheilt, lediglich das Gesicht war beinahe unversehrt gewesen. Ein zartes, unschuldiges Gesicht, lange blonde Haare, blaue Augen, leicht hervorstehende Wangenknochen, sanft geschwungene, nicht zu volle Lippen. Ein bildhübsches Mädchen, das im Laufe der Jahre noch hübscher geworden wäre. Aber es gab jemanden, der nicht zugelassen hatte, dass sie älter als elf oder zwölf wurde. Vor ihrem Tod hatte sie unsägliche Leiden ertragen müssen. Ihr Unterleib gab Zeugnis von unzähligen Vergewaltigungen, die das Mädchen nur überstanden hatte, weil man es unter Drogen gesetzt hatte, wie man im Blut nachweisen konnte. Und wie es schien, gehörte Bruhns zu jenen, die Neles Körper und Seele geschändet hatten. Für Lisa Santos war es beinahe unerträglich gewesen, sich die Fotos anzusehen, Trauer und unbändige Wut hatte sie empfunden. Doch in den folgenden Ermittlungen galt es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Eine zwölfköpfige Soko war gebildet worden, doch bis zum heutigen Tag gab es kein Ergebnis. Nun saßen sie bei Victoria Bruhns und erhielten erste verwertbare Informationen, vor allem hatte das Mädchen jetzt einen Namen.
Die Leiche hatte bei ihrem Auffinden laut rechtsmedizinischem Gutachten etwa vier bis fünf Tage im Freien gelegen, da es vergleichsweise kühl gewesen war, hatte der Verwesungsprozess noch nicht eingesetzt. Das Mädchen war vergewaltigt und anschließend erwürgt worden. Da es keine Abwehrverletzungen aufwies, ging man davon aus, dass es nicht mehr die Kraft gehabt hatte, sich zu wehren. Die Öffentlichkeit erfuhr nie etwas von den unsäglichen Leiden des Mädchens mit dem schönen Namen Nele.
»Und wie ...«
»Ganz einfach. Als ich ihm sagte, dass ich mich von ihm trennen wolle, drohte er mir, wie ich Ihnen gestern schon erzählt habe. Da drehte ich den Spieß um, obwohl ich Angst vor ihm hatte. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich ein paar Tage nach der Entbindung die Zeitung lesen würde, und er erschrak zutiefst, als ich ihm den ausgeschnittenen Artikel unter die Nase hielt und sagte, ich wüsste, dass dieses Mädchen auch seinetwegen gestorben sei. Es war das einzige Ass, das ich im Ärmel hatte, und es stach. Er stand da wie versteinert, dann drehte er sich schweigend um und ging. Das war vor zehn Tagen. Er hat kein Wort mehr darüber verloren, er wusste, dass er diesmal verloren hatte. Glauben Sie mir, ich hatte panische Angst vor diesem Augenblick. Aber dass er sich so leicht geschlagen geben würde, damit hatte ich nie und nimmer gerechnet.«
»Warum haben Sie ein Jahr lang geschwiegen? Wie konnten Sie so lange noch mit so einem Mann zusammenleben ...«
»Frau Santos, ich habe, einen Tag nachdem ich Nele gesehen habe, selbst entbunden. Seither steht Pauline an erster Stelle, und wie ich schon sagte, ich hatte
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