Eisige Schatten
Entfernung zu ihr aufs Sofa und blickte sie an. »Ich würde mich lieber unterhalten. Falls du nicht zu müde bist.«
»Worüber denn?«
»Über dich.«
Sie lächelte. »Du weißt alles von mir. Du hast deine Sekretärin gebeten, Nachforschungen über mich anzustellen, erinnerst du dich?«
»Erzähl mir, was sie nicht herausgefunden hat«, forderte er sie auf, ließ sich nicht entmutigen.
»Es gibt nichts zu erzählen.« Cassie wandte sich wieder dem Kamin zu. Ben bemühte sich, beiläufig zu klingen. »Ich weiß nicht mal, was dein Hauptfach im College war oder wovon du seither gelebt hast.«
»Zwei Hauptfächer, Psychologie und Literaturwissenschaft. Ich hatte ein gewisses Einkommen aus dem Erbe meiner Mutter, das habe ich dir schon erzählt. Das reichte zum Leben.« Sie sprach sachlich, beinahe gleichgültig. »Um das aufzubessern, las ich Prüfungsarbeiten. Eine einfache Tätigkeit, bei der ich zu Hause bleiben und Menschen aus dem Weg gehen konnte.«
»Nur dann nicht, wenn du der Polizei geholfen hast.«
»Nur dann.« Ein leichtes Stirnrunzeln verzog ihr Gesicht. »An einer beruflichen Karriere war ich nie interessiert. Ich wollte bloß in Ruhe gelassen werden.«
»Und jetzt?«
»Jetzt hab ich das hier.« Sie deutete auf den Raum um sie herum. »Dank Tante Alex. Und sie hat mir viele Bücher und Videobänder und Stickpackungen hinterlassen, mit denen ich mir die Zeit vertreiben kann. Wenn ich viel Glück habe und wenn der Mörder gefasst ist, wird es in dieser Gegend jahrelang keinen weiteren Mord geben.«
»Und man wird dich in Ruhe lassen.«
»Ist das zu viel verlangt?«
»Was ist mit einer Familie, Cassie? Mit dieser übersinnlich begabten Tochter, die du eines Tages haben könntest?«
»Nein. Keine Familie. Keine Tochter. Diesen Fluch weitergeben?« Ihr Lächeln war verzerrt, mehr aus Bedauern als aus Überzeugung, dachte Ben. »Ich glaube nicht.«
»Vielleicht würde sie es nicht als Fluch betrachten.«
Cassie zuckte die Schultern. »Vielleicht. Und vielleicht würde es eine andere Welt sein. Vielleicht würden die Menschen nicht mehr getrieben sein, einander zu verletzen. Vielleicht würde ein Heilmittel für Wahnsinn gefunden werden, und es würde keine Monster mehr geben, die Teenager zerstückeln. Und vielleicht würde die Sonne im Westen aufgehen.«
»Du sagtest, du kannst nicht in die Zukunft sehen.«
»Kann ich auch nicht.«
»Wie kannst du dann so zynisch sein?«
»Aus Erfahrungen mit der Vergangenheit.«
Ben trat wieder an den Kamin, um ein Scheit zurückzuschieben, das auf die Kaminplatte gefallen war. Doch er blieb dort stehen und blickte in die Flammen.
Cassie benötigte keine außersinnlichen Fähigkeiten, um seine Gedanken zu lesen. »Ich weiß«, sagte sie leise. »Ich bin ein schrecklicher Pessimist. Es ist schwer, ein Optimist zu sein, wenn man sein Leben mit Monstern verbringt.«
»Versuchst du, mich abzuschrecken?«, fragte Ben, ohne den Blick vom Feuer zu wenden.
»Ich sag dir nur … wie’s ist.« Cassie legte den Kopf an die Sessellehne und beobachtete Ben. In ihr war ein dumpfer Schmerz, als täten ihr alle Knochen weh, und Ben anzuschauen dämpfte den Schmerz nicht.
Er wird dich zerstören.
Würde er? Und würde es ihr sehr viel ausmachen, wenn er es täte?
Cassie wusste, dass sie Fatalistin war. Sie hatte gute Gründe dafür. Trotz ihrer jahrelangen Bemühungen, all der entsetzlichen strapaziösen Stunden, die sie damit verbracht hatte, sich in den Verstand Wahnsinniger einzuschleichen und durch ihre Augen unglaubliche Taten des Bösen zu sehen, hatte sich nicht viel verändert.
Das Böse tötete. Unschuldige starben.
Und sie hatte der Polizei mitgeteilt, wo sie die Leichen finden würden.
Ja, in der Tat, sie verstand, was Schicksal war. Sie glaubte an das Schicksal. Sie hatte die Sinnlosigkeit entdeckt, gegen das Schicksal anzukämpfen.
»Cassie?«
Sie überlegte, was an ihrem Gesichtsausdruck seinen so verstört wirken ließ. Und sie überlegte, warum sie gegen etwas ankämpfte, was sowieso geschehen würde.
»Ich sag dir, wie es ist«, wiederholte sie langsam.
Ben setzte sich direkt vor sie an den Couchtisch und beugte sich so weit vor, dass fast kein Raum mehr zwischen ihnen blieb. Und selbst der verschwand, als er ihr die Hand auf das Knie legte. »Cassie, ich muss kein Paragnost sein, um zu merken, dass du dich quälst. Was ist es? Bin ich es? Löse ich das aus?«
Einen flüchtigen Augenblick lang erinnerte sich Cassie an eine andere Hand,
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