Eisige Versuchung
Wahrscheinlich hat er kein Portemonnaie, weil er sowieso chronisch blank ist, so einen Eindruck machte er jedenfalls auf mich. Ich verwette meinen Arsch drauf, dass er alles versäuft!« Abfällig lachte er, wurde jedoch schlagartig ernst. »Sein Sohn tut mir leid.«
Vor Entsetzen wurde Shade heiß. Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Skijacke. »Sein Sohn?«
»Na, er hat den Sheriffstern doch für seinen Kleinen gekauft.«
»Der arme Junge!«, dachte Shade. Hoffentlich lebte Averell noch. Im nächsten Moment fragte sie sich jedoch, ob es besser war, einen Trinker und Kriminellen als Vater zu haben als gar keinen. Womöglich schlug er im Suff seine Familie, wie Shade es bei ihren ehemaligen Nachbarn hautnah miterlebt hatte, bis die Frau sich endlich von ihrem Mann getrennt hatte. Sie vermochte diese Frage nicht zu beantworten. Es machte eher den Anschein, als wäre Averell zwar ein schlechter Mensch, aber ein guter Vater gewesen, immerhin hatte er ein Geschenk für sein Kind gekauft.
»Der Geizhals fischte alles Mögliche aus seiner Tasche, darunter auch einige Münzen. Er knallte mir alles auf den Tresen. Ziemlich unangenehmer Zeitgenosse.« Peak schnalzte mit der Zunge. »Ich musste mir mein Geld zwischen Zahnstochern, gebrauchten Papiertaschentüchern und Zuckerpäckchen heraussuchen. Unter alldem Kram war auch eine Streichholzschachtel vom Bear’s den .«
Die Bar hatte schon existiert, als Shade noch ein Kind gewesen und in der Gemeinde gelebt hatte. In Bridgeport gab es drei verschiedene Fraktionen. Die Touristen besuchten abends The prosperous huntsman , einen Pub, der am Ende der Verkaufsstraße lag, einladend hell erleuchtet war und sogar deutsches Bier anbot.
Die zwielichtigen Gestalten trafen sich in der Spelunke Bear’s den . In dem Berg, an dessen Fuß das Gebäude lag, war vor Urzeiten ein großes Stück Felsen herausgebrochen. Man hatte die Kneipe in diese Mulde hineingebaut. Der Name »Bärenhöhle« passte nach Shades Meinung sehr gut, auch weil es schon auf der Straße übel roch.
Die normalen Bürger klappten die Bürgersteige hoch und blieben zu Hause. Bridgeport besaß weder ein Kino noch eine Bowlingbahn. Pyjamapartys stellten für die Kinder ein Highlight dar und Barbecues für die Erwachsenen, weshalb Shade sich oft mit ihrem besten Freund Kid in den Wäldern herumgetrieben hatte. Bei der Erinnerung an ihn wurde ihr übel, und sie wünschte sich, das Sandwich nicht gegessen zu haben. Der Anblick des Corned Beef im Glas machte es nicht gerade besser.
»Danke, das hilft mir weiter.« Sie verabschiedete sich und ging zum Ausgang.
»Das Schießeisen ist nicht zufällig auch in Ihren Rucksack gerutscht … dort oben … in der Schutzhütte?«, wollte er, laut schmatzend, wissen.
»Schießeisen?« Abrupt blieb sie stehen und wandte sich um. Ihr Herz wummerte in ihrem Brustkorb.
»Die Kinderknarre. Ich verkaufe nur nachgeahmte Waffen. Behaupten Sie ja nirgendwo, ich würde echte Ballermänner unter der Hand anbieten!«, beschwor er sie und gestikulierte mit seinem erhobenen Finger, der dürr wie ein Grissini war.
Averells Revolver war genauso wenig echt gewesen wie der Sheriffstern, diese Erkenntnis schockierte Shade. Womöglich hatte er für diesen dummen Streich sterben müssen. Ihr Trip in die Heimat entwickelte sich immer mehr zum Drama. Shade schüttelte ihren Kopf. »Nein, keine Pistole.«
»Übrigens, der Christophorus ist der Schutzpatron der Autofahrer, nicht der Wanderer.« Peak spuckte den Kautabak in einen Mülleimer neben dem Tresen. »Sagen Sie das Ihrer Mom.«
»Ja, danke.« Offenbar glaubte er ihr kein Wort von dem, was sie erzählt hatte. Aber sie hatte dennoch einen Hinweis erhalten, wo sie erfahren konnte, wer Averell wirklich war. Und von dort aus würde sie auch Joe ausfindig machen, da war sie sich sicher.
Sie beeilte sich, das Geschäft zu verlassen, und fuhr geradewegs an den Stadtrand zum Bear’s den . Verwundert stellte sie fest, dass die Bar selbst jetzt geöffnet hatte, obwohl es erst kurz nach Mittag war. Leer war sie deshalb aber nicht. Als ein Mann heraustorkelte, drang Musik an ihr Ohr, irgendein Country-Song von Kris Kristofferson, der von dem schallenden Gelächter mehrerer Männer übertönt wurde.
Shade fühlte sich unwohl. Sie wollte dort nicht hineingehen. Vor dem Eingang stank es nach Fusel und Urin. Die dunklen Wolken, aus denen es immer stärker schneite, schienen genau über der Kaschemme zu schweben, sodass das in den Berg gebaute
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