Eisige Versuchung

enttäuschtes Seufzen, als er mit ihr nach unten flog. Sachte setzte er sie ab. Absichtlich ließ sie ihre Hand über seinen muskulösen Brustkorb gleiten, um das Lösen des Körperkontaktes herauszuzögern. Doch irgendwann musste sie von ihm ablassen.
    Nun, da Shade näher an der Stelle war, wo Averell gelegen hatte, erkannte sie sogar eine Ausbuchtung im Schnee. »Er ist gar nicht tot.«
    »Oder jemand hat seinen Leichnam weggeschleppt.« Er zeigte auf eine mögliche Schleifspur im Schnee.
    Ihre Erklärung sagte ihr mehr zu. Roque hatte ihren Angreifer so schnell gegen den Baum gerammt, dass dieser den Engel nicht gesehen haben konnte. Averell stellte keine Gefahr für ihren überirdischen Begleiter dar. Sie wollte nicht noch mehr Menschen auf dem Gewissen haben. »Er kann auch weggekrochen sein.«
    Sie hob den Schal auf. Er war steif gefroren. Vielleicht lebte Averell doch nicht mehr. Wenn Roque ihn nicht umgebracht hatte, dann die tiefen Minustemperaturen.
    Ihre Finger stießen an etwas, das an der Unterseite des Schals befestigt war. Sie drehte ihn herum. »Oh, mein Gott, ein Sheriffstern! Du hast einen Deputy getötet!«
    »Er sieht komisch aus.«
    Nachdem das erste Entsetzen abschwoll, bemerkte Shade es auch. Sie schnippte dagegen und übte Druck auf den Zacken aus, der eine Einbuchtung aufwies. Er ließ sich leicht verbiegen. »Er wurde aus dünnem Blech gefertigt.«
    »Um was wetten wir, dass Made in Taiwan auf der Rückseite steht?« Roque stemmte seine Hände in die Hüften.
    »Um einen Kuss.« Aus dem Affekt heraus hatte sie den ersten Gedanken ausgesprochen. Verlegen vermied sie es, ihren Begleiter anzusehen. Sie rieb so akribisch über den Stern, als könnte sie so eine geheime Inschrift freilegen.
    »Abgemacht.«
    Erstaunt hielt sie inne und sah ihn an. Die Zusage kam ihr zu schnell. »Aber keinen kurzen.«
    Mit einem süffisanten Lächeln hakte er nach: »Wie meinst du das?«
    Mit heißen Wangen hauchte sie gegen das Blech und polierte es mit ihren Handschuhen. »Nicht wie man einen Freund küsst.«
    »Sondern einen Liebhaber?« Seine Stimme klang nun tiefer und jagte ihr wohlige Schauer über den Leib.
    Sie verdrehte die Augen, doch ihre Lippen kribbelten bereits. »Nicht flüchtig eben.«
    »Mit Zunge?«
    Warnend blinzelte sie ihn an. »Du willst es wohl genau wissen.« Ob ihn die Vorfreude bereits genauso erregte wie sie?
    »Ich möchte nur Missverständnisse vermeiden.« Mit einer Geste forderte er sie auf, den Sheriffstern herumzudrehen.
    Sie legte das Blech mit der Vorderseite nach unten auf ihre behandschuhte Handfläche und hielt es so, dass auch Roque die Schrift lesen konnte. »Ha! Da steht nur Toy Trunk .«
    Er seufzte theatralisch, doch sie nahm ihm seine Enttäuschung darüber, verloren zu haben, nicht ab, denn er leckte sich über die Lippen, als würde er ihren Kuss bereits schmecken. Außerdem hatte er gar nicht gesagt, was er von ihr verlangte, falls er gewonnen hätte.
    »Es gibt einen Laden in Bridgeport, der so heißt. Er befindet sich auf der Einkaufsstraße und bietet auch Souvenirs und Corned Beef im Glas an.« Zumindest war das bei Shades letztem Besuch dort noch der Fall gewesen.
    »Gepökeltes Rindfleisch im Glas in einem Spielzeugladen?«, echote er und schüttelte sich.
    »Selbst hergestellt, angeblich. Hier in der Gegend kämpft jeder ums Überleben. Haupteinnahmequelle ist der Tourismus, also wird alles Mögliche ins Sortiment aufgenommen.« Sie zuckte mit den Achseln.
    Roque ging auf eine Stelle zu, an der die Bäume weiter auseinanderstanden. »Wir treffen uns in der Stadt.«
    »Willst du nicht mit mir mit dem Auto fahren?«
    »Um in deinen SUV zu passen, müsste ich meine Schwingen zusammenklappen wie ein Gästebett. Aber ich breche mir so ungern die Knochen. Das tut weh, und wer weiß, ob sie wieder richtig zusammenwachsen. Ein Engel mit lahmen Flügeln würde dich doch nur halb so stark beeindrucken«, neckte er sie. »Und diese andere Möglichkeit nutze ich nur, wenn es nicht anders geht.«
    Bevor sie ihn fragen konnte, wovon er sprach, hob er auch schon ab. »He, was ist mit meinem Gewinn?«
    Er drehte seine Kreise über ihr, und selbst aus der Entfernung konnte sie erkennen, dass er grinste. »Wir hatten nicht ausgemacht, wann ich den Wetteinsatz einzulösen habe«, rief er ihr zu.
    Als er noch weiter aufstieg, glaubte sie, sein Lachen zu hören. Nach kurzer Zeit war er so hoch am klaren blauen Himmel, dass er vom Boden nicht mehr von einem Greifvogel zu