Eisige Versuchung
unterscheiden war.
»Na warte!« Sie reckte ihre Faust in einer lächerlichen Drohgebärde nach oben. Enttäuscht machte sie sich an den Abstieg.
Die Temperaturen stiegen merklich an, nun, da Roque den Berg verlassen hatte. In der Nähe des Staudamms, wo sie ihren Geländewagen geparkt hatte, hatte bei ihrer Ankunft noch Schnee gelegen. Jetzt war alles weggetaut.
Shade holte ihr Handy aus der Innentasche ihrer Jacke, rief Socorro LaMotta an und behauptete, ihrer Großmutter ginge es sehr schlecht. Sonny war wenig erfreut über ihre Bitte, gewährte ihr aber, spontan einige Tage freizunehmen.
Dann klingelte Shade bei Maud und Baba Grimes. Glücklicherweise erfreuten ihre Großeltern sich bester Gesundheit. Sie gestand, dass sie in der Pension Wild Goose übernachtete. Um Ärger aus dem Weg zu gehen, griff sie jedoch auf eine kleine Notlüge zurück und behauptete, das Meteorologische Institut hätte das Zimmer in der Pension für sie vorab gebucht.
Lügen über Lügen, dachte sie und startete den Motor. Färbte der Schnee aus der Hölle etwa schon auf sie ab?
Aufgeregt fuhr sie nach Bridgeport, um Averells Spur weiterzuverfolgen. Und um ihren Kuss abzuholen. Roque sollte ja nicht glauben, dass er einfach so davonkam! Sie würde ihn so leidenschaftlich küssen, dass er seine Lippen gar nicht mehr von den ihren lösen wollte.
»Und danach werde ich ihn wegstoßen, gelangweilt mit den Achseln zucken und sagen: Ganz nett .« Sie kicherte wie ein Backfisch. Dann seufzte sie. Nein, so würde sie nicht reagieren.
Ihr Magen knurrte, als sie in der Gemeinde ankam, und erinnerte sie daran, dass es schon Mittag war und sie noch nicht gefrühstückt hatte. Schal, Mütze und Handschuhe ließ sie im Auto, denn der Oktober zeigte sich von seiner schönsten Seite. Sie kaufte sich ein Sandwich und aß es im Gehen, den Blick immer nach oben gerichtet, doch Roque sah sie nicht.
Hatte er es sich anders überlegt und war gar nicht nach Bridgeport geflogen? Ließ er sie im Stich, weil er nach einer gemeinsamen Nacht das Interesse an ihr verloren hatte? Immerhin hatte er sie nicht geküsst, bevor sie sich getrennt hatten. Oder hatte sein Herr ihn ein weiteres Mal verwarnt, diesmal schmerzhafter, sodass er sich wieder seiner Mission widmete?
Ernüchtert warf sie das Sandwich-Papier in den Mülleimer vor dem Toy Trunk und betrat den kleinen Laden. Er existierte tatsächlich noch, nur schien er ihr noch vollgestopfter als bei ihrem letzten Besuch. In der Ecke standen gleich zwei Postkartenständer. Dahinter türmten sich Stofftiere im Schaufenster. Es hingen so viele Werbeplakate an der Scheibe, dass kaum noch Licht in das Geschäft fiel und es dementsprechend schummrig war. Der dicke braune Veloursteppich dämpfte jeden ihrer Schritte, als sie zur Verkaufstheke ging.
Der Mann, der sich von hinten darüberlehnte und sich mit seinen Händen neben den Wurstgläsern und der Plastikbox mit den giftgrünen Kaugummikugeln abstützte, schmatzte. Der Kautabak färbte seine Zähne braun. »Schaut so aus, als würde der Winter doch endlich vom Mount Jackson ins Tal ziehen.«
Stirnrunzelnd spähte Shade auf die Straße hinaus. Die Sonne schien nicht mehr. Vereinzelt fielen Schneeflocken herab, dick und behäbig. Sie strahlte.
Roque hielt sich also doch in Bridgeport auf.
Zehntes Kapitel
Ein Kinderspiel
»Suchen Sie was Bestimmtes, Ma’am?« Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und stieß beinahe mit seinem Kopf an die chinesischen Laternen, die von der Decke hingen. »Mir gehört der Laden. Peak Williams.«
Was für ein ungewöhnlicher Vorname! Aber warum sollten nur Prominente oder Hippies ihre Kinder Apple, Tallula Belle oder Zuma Nesta Rock nennen? Sein Gesicht war so hager, dass Shade loslaufen und ihm einen Snack spendieren wollte.
»Um ehrlich zu sein, ja.« Wozu sollte sie lange um den heißen Brei herumreden? Sie hatte auch keine Lust, etwas von diesem verstaubten Kram zu kaufen, nur um den Besitzer auf ihre Seite zu ziehen. Deshalb legte sie ihr Fundstück vor ihm hin. »Verkaufen Sie so etwas?«
»Vielleicht.«
Misstrauisch beäugte sie ihn. Hoffentlich verlangte er keine Dollarscheine, um seine Erinnerung aufzufrischen. Sie verdiente am Institut nicht gerade viel, und die Mieten in L.A. waren hoch. Aus diesem Grund versuchte sie es mit der Mitleidsschiene.
»Dieser Fremde und ich, wir haben gemeinsam in einer dieser Schutzhütten übernachtet. Sie wissen schon, wo jeder ohne Anmeldung einkehren kann, bei Nacht
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