Eisige Versuchung
sieht so aus, als wäre dieses Fleckchen früher gerodet worden, aber inzwischen wuchert es zu.«
Bald würden Lionel Broadbakers Baumaschinen alles platt walzen, aber das wollte sie ihrer Familie noch nicht sagen, um sie aus Hartcourts Schusslinie zu halten. Unter keinen Umständen wollte Shade sie ihn Gefahr bringen. Daher entschied sie, die Hintergründe für sich zu behalten. Sie wusste bisher auch zu wenig, was wirklich vor sich ging. Die Puzzleteile ergaben noch kein hundertprozentiges Bild.
»Meinst du den alten Totenacker?«, fragte ihr Großvater.
Shades Augen weiteten sich. Unweigerlich dachte sie an den Eisigen Lord, den Herrn des Schattenreichs, und seine Krieger, wie Roque einer war.
»Als ich noch zur Schule ging, machte jede Klasse einmal im Jahr einen Ausflug zu der Begräbnisstätte.« Mit ihren Händen zeichnete Maud Rechtecke in die Luft. »Damals standen noch die Abgrenzungen der Gräber. Die Originale der fußknöchelhohen Holzzäune waren natürlich schon verrottet, aber man ersetzte sie regelmäßig.«
»Bei meinen Wanderungen kam ich oft an dem Platz vorbei und konnte beobachten, wie alles immer mehr zerfiel und verschwand.« Seufzend kraulte Baba sein Kinn und wirkte einen Moment lang in Gedanken versunken. »Die Verantwortlichen im Mono County ersetzten die Holzumgrenzungen, indem sie Steine aufschichteten, um ersichtlich zu machen, wo die Menschen begraben lagen. Sie dachten wohl, man müsste sich dann nicht mehr um die Erhaltung kümmern, was selbstverständlich falsch war, und so brachen die Mäuerchen durch Wind und Wetter zusammen.« Er machte eine Geste, als würde er etwas wegwerfen. »Irgendwelche Idioten verteilten die Steine im Wald.«
»Hooligans«, warf seine Frau ein und richtete ihre Haare.
»So nennt man nur die Rowdys bei Sportevents«, korrigierte Baba sie. »Den Rest überwucherte die Natur. Die Bank of America spendete in den Achtzigerjahren eine Infotafel, aber Vandalen …«
Maud zwinkerte Shade zu. »Hooligans.«
Ihr Mann verdrehte die Augen. »Sie hebelten zuerst das Plexiglas ab, worauf der Zettel darunter weggeweht wurde. Beides fand der Ranger im Wald, aber es war zu kaputt, um es wieder einzusetzen. Mit den Jahren verwitterte der Baumstumpf, auf dem beides angebracht worden war. Inzwischen ist der Friedhof nur eine weitere Lichtung im Wald, und auch die wird in ein paar Jahren nicht mehr zu sehen sein.«
»Was ist das für eine Ruhestätte?«
»Erinnerst du dich denn nicht?« Maud konnte es wohl nicht glauben, denn sie schüttelte den Kopf. »Als du im Kindergarten warst, plante deine Gruppe eine Exkursion dorthin. Kid und du, ihr wolltet zuerst nicht hin, weil ihr euch gefürchtet habt. Aber dann sind wir gemeinsam zum Kirchhof hier in Bridgeport gegangen, und ihr habt gesehen, dass solch ein Ort nicht schlimm ist. Ihr habt extra Blumen in meinem Garten gepflückt. Als ihr auf dem Gottesacker ankamt, wart ihr enttäuscht, nur eine Wiese vorzufinden. Du hast geschimpft, dass du die schönen Blumen doch nicht für die Hasen mitgebracht hättest, aber am Ende hat die Leiterin euch überredet, sie doch dort zu lassen.«
»Siedler wurden dort im neunzehnten Jahrhundert beerdigt.« Hastig trank Baba seinen Tee, als wäre ihm erst jetzt wieder eingefallen, dass er ja ein Getränk vor sich stehen hatte.
Shade ging ein Licht auf. »Der California Trail!«
Baba nickte. »Ab 1840 kamen Siedler und Goldsucher mit ihren Planwagen aus dem Osten der USA in den Westen. Es müssen um die zweihundertfünfzigtausend Menschen gewesen sein, die sich auf die Reise machten. Sie lösten den kalifornischen Goldrausch aus. Eine Weile führte ihr Weg sie am Sweetwater River entlang. Einige davon blieben im Bridgeport Valley. Diejenigen, die die Strapazen der Bergüberquerung nicht überstanden oder hierblieben und eines natürlichen Todes starben, begrub man am Hang des Mount Jackson.«
»Es ist wirklich eine Schande«, versöhnlich schob Maud die Dose wieder in die Mitte des Tischs, »dass sich heutzutage nur noch die Alten daran erinnern.«
»Betagte Bewohner der Gegend, wie Arthur Ehrman einer gewesen ist«, dachte Shade bedrückt und fragte sich, ob ihre Großeltern ihn vielleicht gekannt hatten. Aber sie durfte sie nicht darauf ansprechen, um nicht mit seinem Verschwinden in Verbindung gebracht zu werden.
»Die Begräbnisstätte ist in Vergessenheit geraten, weil die Menschen sich mehr für die Barbies und Kens aus Hollywood als für Geschichte und ihre Vorfahren
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