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Eisige Versuchung

Eisige Versuchung

Titel: Eisige Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Henke
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musste.
    Das Gebäude unterschied sich nicht von den anderen in der Straße. Man erkannte das Gemeindehaus nur an den Messingbuchstaben über dem Eingang und daran, dass die Blumenkästen vor den Fenstern vor üppigen Geranien überquollen. Allerdings hatten die Temperaturschwankungen der letzten Tage ihnen zugesetzt, und die roten Blüten ließen ihre Köpfe hängen.
    Als sie nebeneinander hineingingen, ergriff Roque Shades Hand. »Ein Ehepaar wirkt unauffälliger.«
    »Dann treten wir wieder als Mr. und Mrs. Rodriguez in Erscheinung?«
    »Ist dir das unangenehm?«
    »Mitnichten, mein Engel!«, antwortete sie und gluckste. »Ich könnte mich daran gewöhnen.«
    Er warf ihr einen dieser herzzerreißenden Blicke zu, die voller Wärme und gleichzeitig voller Verzagtheit waren, sodass sie keuchte, weil sie den Gedanken, ihn bald ziehen lassen zu müssen, immer weniger ertrug. Je mehr Zeit sie zusammen verbrachten, desto enger wuchsen sie zusammen. Und je enger sie sich standen, desto schmerzhafter würde die Trennung werden, sollten sie keinen Weg finden, das Unmögliche zu vollbringen.
    Aber wie zur Hölle überlistete man den Teufel?
    Anders als im Toy Trunk und im Bear’s den half man ihnen freundlich weiter. Ein Mann – das Namensschild an seinem Pullunder wies ihn als Troy Muhlenberg aus –, der an der Rezeption stand und gleichzeitig die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit und das Fremdenverkehrsamt führte, begleitete sie in das Archiv im Keller. Shade schätzte ihn auf knapp unter dreißig Jahre, reichlich jung für jemanden, der für drei Aufgabengebiete zuständig war, aber es war ohnehin rein gar nichts los.
    Über ein Drittel der Bewohner Bridgeports war sechzig Jahre alt oder weit darüber hinaus. Familien zogen oft in die weit entfernten Großstädte, um ihren Kindern eine bessere Ausbildung zu bieten. Singles wanderten ab, da es in der Gegend zu wenige Jobs gab und wenn, dann meistens in der Tourismusbranche, oder es handelte sich um einfache und somit schlecht bezahlte Arbeiten.
    Muhlenberg sah aus wie einem Stummfilm entsprungen, was nicht nur daran lag, dass er ein weißes Hemd, geschlossen bis auf den letzten Knopf, einen grauen Westover und eine schwarze Stoffhose trug. Sein gerader Scheitel teilte seine Kopfhälften exakt in der Mitte. Von diesem hellen Strich aus schmiegten seine dunklen Haare sich wie angemalt an seinen Kopf. Reichlich Pomade sorgte dafür, dass das auch so blieb. Für den Clark-Gable-Oberlippenbart hätte man ihn in L.A. entweder verprügelt oder – je nachdem, in welchem Viertel er sich aufhielt – gefragt, ob man ein Foto mit ihm machen dürfte, weil man ihn für einen Star hielt, dessen Name einem gerade nicht einfiel. Aber wer so herumlief, musste bekannt sein oder es bald werden.
    Ungläubig schaute Shade auf seine glänzenden Lack-Sneakers. Tap! Tap! Tap! Bei jeder Treppenstufe, die er hinabstieg, klackerten sie, als trüge er Stepptanzschuhe. »Sie schreiben an einem Buch über die Spuren, die die Siedler auf dem California Trail hinterlassen haben, sagten Sie?«
    »Ja, genau.« Unsicher blickte Shade zu Roque.
    Muhlenberg bohrte weiter: »Welcher Verlag wird es herausbringen?«, und sie fragte sich, ob er misstrauisch oder lediglich neugierig war.
    Der Eisengel drückte aufmunternd ihre Hand: »Noch tragen wir erst alle Fakten zusammen. Sollte unsere Recherche genügend Stoff zutage fördern, werden wir das Projekt einer literarischen Agentur vorstellen. Noch ist es dafür zu früh.«
    »Man unkt, dass es in den USA keine Kultur gäbe.« Troy Muhlenberg schloss eine Verbindungstür auf, schaltete das Licht in dem Kellerraum an und bat seine Gäste voranzugehen. »Aber das ist natürlich völliger Unsinn, sie ist im Vergleich mit anderen Kontinenten nur sehr jung.«
    »Und gerät bereits in Vergessenheit.« Shade nickte und trat vor den beiden Männern in das Archiv ein.
    Die Fenster – kleine Luken oberhalb der Wände – waren vergittert, als lagerten hier Goldbarren und nicht nur die Papiere eines Sechshundert-Seelen-Ortes in den Bergen, für den sich so gut wie niemand interessierte. Die Neonlampen an den Decken waren so grell, dass man in diesem Raum problemlos eine Obduktion hätte durchführen können, wären nicht die Wollmäuse in den Ecken gewesen. Eine Staubschicht färbte die eigentlich braune Platte des einzigen Tischs im Raum grau. Shade vermutete, dass er aus einem Klassenzimmer stammte, weil er das typische Fach für Schulbücher aufwies und

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