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Eisige Versuchung

Eisige Versuchung

Titel: Eisige Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Henke
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erzählt, doch das hatte ihr keine Erleichterung verschafft. Daher hatte sie beschlossen, die Geschichte, die auf ewig einen Schatten auf ihr Dasein warf, mit ins Grab zu nehmen. Bis dahin lief sie mit einer unsichtbaren Last auf ihren Schultern herum, die sie in Momenten wie diesen fast zu Boden drückte.
    Sie eilte zu ihrem Geländewagen, dabei gab es für ihre Hast keinen ersichtlichen Grund. Doch als sie sich auf den Fahrersitz fallen ließ und zu dem Haus neben dem ihrer Großeltern spähte, wusste sie, dass sie zwar vor den Boyds davonlaufen konnte, jedoch nicht vor ihrer Vergangenheit. Vielleicht würde sie mit einer Beichte ihr schlechtes Gewissen abstreifen, eventuell konnte sie wieder befreit durch den Alltag gehen und endlich wirklich glücklich werden, wenn sie Kids Eltern erzählte, was passiert war.
    »Erwartest du etwa Absolution?« Diese würde sie wohl kaum bekommen. Von niemandem. Es gab keine Entschuldigung für das, was sie getan hatte. Auch ihr junges Alter stellte nur eine Ausrede dar. »Du kannst dir ja nicht einmal selbst vergeben.«
    Schnaubend startete sie den Motor und lenkte ihren SUV aus der Parklücke. War sie im Grunde nicht nur eine Sünderin, die einen Sünder anklagte? Hatte sie überhaupt das Recht, Hartcourt ans Messer zu liefern? »Ja, verdammt!« Womöglich tilgte sie dadurch einen Teil ihrer eigenen Schuld. Nein, das war nicht möglich. Man konnte die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, nicht einmal mit einer Million guter Taten.
    Als sie an der Pension Wild Goose eintraf, kam Roque gerade aus einer Gasse neben der Herberge. Sie hielt am Bürgersteig, öffnete die Beifahrertür und lehnte sich zu ihm hinüber. Während sie auf den Sitz neben sich klopfte, erklärte sie: »Mein rechter, rechter Platz ist frei«, wie in diesem Stuhlkreisspiel, das sie als Kind geliebt hatte.
    »Ist er nicht.« Lächelnd schwang er sich ins Auto, äußerlich ein Mann wie jeder andere.
    »Nicht wie jeder andere«, korrigierte Shade sich in Gedanken, denn auch ohne Flügel besaß er eine einvernehmende Ausstrahlung.
    Er packte ihr Kinn und küsste sie besitzergreifend. »Auch wenn ich nicht bei dir bin, ist der Platz an deiner Seite besetzt. Merk dir das!«
    Überrascht hob sie ihre Augenbrauen. »So, ist er das?« Am liebsten hätte sie gejauchzt. Stattdessen kündigte sie an: »Wir fahren zum Rathaus.« Mit einer Geste bat sie ihn, die Tür zu schließen, was er seufzend tat.
    »Schade, ich dachte, wir gehen hoch auf dein Zimmer?« Er verschränkte seine Hände hinter dem Kopf und lehnte sich in seinem Sitz zurück.
    »Was ist in der Zeit, als wir getrennt waren, passiert?«
    »Meine Sehnsucht nach dir ist gewachsen.« Aus seinem Mund klang das nicht einmal kitschig, stellte Shade erstaunt fest.
    Sie grinste bis über beide Ohren. »In den zwei Stunden?«
    »Jede Minute, die ich auf der Erde verbringe, ist kostbar.« Er rieb sich die Brust, wieder einmal. »So sollte es bei jedem Menschen sein. Aber man weiß manchmal erst, was man Kostbares besaß, nachdem man es verloren hat.«
    »Amen«, dachte Shade und fuhr los, denn ihre Augen wurden feucht.

Einundzwanzigstes Kapitel
    Der kleine Krieger
    Auf dem Weg zum Rathaus setzte Shade Roque ins Bild, was den Siedler-Friedhof auf der Lichtung betraf. Dabei schaute sie so verkrampft auf die Straße, als wäre sie eine Fahranfängerin, nur um sich von den Tränen, die in ihren Augenwinkeln brannten, abzulenken.
    Es funktionierte. Sie stellte den SUV auf dem kleinen Parkplatz vor der Bürgermeisterei ab, stolz darauf, die Haltung zu wahren. Ihre Mutter hatte ihr eingeimpft, stark zu bleiben, käme, was wolle, was Sybill Mallory selbst jedoch kühl, manchmal sogar abweisend und berechnend hatte wirken lassen. Shade hatte ihr nie bewusst nachgeeifert. Welches Kind strebte schon danach, wie seine Eltern zu werden? Aber ein wenig hatte die Denkweise ihrer Mom doch auf sie abgefärbt, und nun war sie froh darüber.
    Was nutzte es zu weinen? Nichts. Es machte Kid und Arthur nicht wieder lebendig und aus Roque keinen normalen Mann, der zu ihr ziehen und sich in Los Angeles einen Job suchen konnte.
    Shade erinnerte sich an das Poster aus der TV-Serie »Akte X«, das früher in ihrem Jugendzimmer gehangen hatte. Unter einem Ufo stand geschrieben: Ich will glauben. Genauso wie Fox Mulder an der Existenz von außerirdischem Leben festhielt, vertraute sie darauf, einen Weg zu finden, dass Roque bei ihr bleiben konnte und nicht zurück in das eisige Reich

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