Eisige Versuchung
angekleidet hatte, klopfte es zaghaft an der Zimmertür. Ihr Herz pochte plötzlich wild. Sie lächelte, obwohl ihre Augen vom Weinen immer noch brannten. Fieberhaft überlegte sie, wie sie ihm entgegentreten sollte. Sie würde ihm ohnehin nicht lange böse sein können, daher nahm sie sich vor, ihn erst zu ohrfeigen und ihn dann stürmisch zu küssen, denn wenn sie erst seine Lippen auf den ihren spürte, würde sie die Rüge vergessen.
Aufgeregt öffnete sie, aber es stand niemand auf dem Korridor. Hatte sie sich zu viel Zeit gelassen? War Roque wieder gegangen, weil er glaubte, sie wollte ihn nicht mehr in ihrer Nähe haben, nachdem er sie so harsch zurechtgewiesen hatte?
Sie trat auf den Flur hinaus, um zur Treppe zu eilen und ihm hinterherzulaufen. Das hätte sie beileibe nicht für jeden Mann getan, aber Roque war es wert. Er litt genauso wie sie, das ahnte sie. Oder bildete sie sich nur ein, dass er dieselben Gefühle für sie hegte wie sie für ihn?
Zweifel und Hoffnung wechselten sich so rasant ab, dass Shade die Person, die sich hinter der Tür im Schatten versteckte, erst wahrnahm, als es zu spät war.
Der Stich in ihren Hals ließ sie vor Schmerz und Angst aufkreischen, doch niemand hörte sie, denn die Hand auf ihrem Mund dämpfte ihren Schrei. Bevor sie sich wehren konnte, wurde ihr schwarz vor Augen, und sie sackte zu Boden.
Vierundzwanzigstes Kapitel
Endlich weg
Heute würde Roque schriftlich bekommen, dass er ein Loser war.
Zwei Wochen lang hatte er den Verkauf seines heiß geliebten Flair Birds hinausgezögert. Nach Feierabend – er warf einen Blick auf seine Armbanduhr –, also in etwas weniger als dreißig Minuten, würde er den Vertrag unterzeichnen und mit einem Dodge Pick-up vom Parkplatz des Autohändlers in Portland fahren. In Corpus Christi City wollte man ihm bis zu hundertfünfzig Dollar weniger für den 1966er zahlen, aber zum Glück hatte er in dem Vorort einen Liebhaber alter Coupés gefunden.
»Ein Pick-up!« Angesäuert schlug Roque mit der flachen Hand auf seinen Schreibtisch, an dem er saß. Kein erfolgreicher Geschäftsmann ließ sich in solch einem Fahrzeug sehen, nicht einmal privat. Aber er war ja auch nicht erfolgreich und ein Geschäftsmann erst recht nicht, sonst müsste er seinen Laden nicht Ende des Monats schließen.
Er war pleite. Da gab es nichts mehr schönzureden, auch die Zahlen konnte er nicht länger frisieren. Keine Kunden, kein Geld, keine Selbstständigkeit. In den nächsten Wochen musste er dringend einen Job finden. Aber wer sollte ihn einstellen? Seine netten Kollegen, die Büros in der Innenstadt führten und sich eine Teamassistentin leisten konnten, würden ihn naserümpfend wegschicken. Warum sollten sie ihn anheuern, wo er doch im großen Stil versagt hatte?
Seufzend stützte er sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab und rieb über sein Gesicht. Er fühlte sich elend. Einsam und hilflos. Am Ende.
Die Schande, seinem Vater unter die Augen zu treten, würde er nicht überleben. Er blieb eben doch der unfähige Junge, der im Kindergarten nicht einmal einen Turm mit Klötzen hatte bauen können. Vielleicht sollte er dieses Schicksal akzeptieren, zurück zu seinen Eltern ziehen – denn nach dem Auto und seiner Firma war der Verlust seiner Wohnung die logische Konsequenz – und im Schlachtbetrieb seines Onkels arbeiten. Cole hatte ihm nach der Schule bereits eine Stelle angeboten gehabt, sicherlich konnte Roque dort auch heute noch sofort anfangen.
»Familie hält eben zusammen.« Sein Lachen klang bitter. »Welch ein Hohn!«
Als die Tür aufging, schrak er zusammen. Seit vielen Wochen betraten nur Vertreter oder sein Vermieter, der immer wieder vergeblich versuchte, die drei rückständigen Mieten einzutreiben, seinen Laden. Durch die Brise wehten Wollmäuse wie Tumbleweeds, Steppenläufer, über den Boden. Roque hielt den Raum nicht mehr sauber. Wozu?
Eine Frau mittleren Alters schob Alora Cusack in einem Rollstuhl zu ihm herein. Nur der Schreibtisch trennte sie. Roque hielt die Luft an. Die alte Dame sah fürchterlich aus. Abgemagert, schwach und blass. Dunkle Schatten lagen unter ihren geröteten Augen. Er erkannte das schlichte schwarze Kleid wieder. Sie hatte es bei der Besichtigung von Bob Porches Haus getragen. Inzwischen war es ihr eine Nummer zu groß. Um ihren Hals lag eine Kette, neben einem einfachen Kreuz hing ein Ring daran. Er war aus Gold wie ihr Ehering, jedoch größer.
»Guten Abend, Mr. Rodriguez«, grüßte sie leise
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