Eisige Versuchung
nichts gegönnt, sind nicht in Urlaub gefahren und haben keine neuen Möbel gekauft. Wir haben gespart, was immer am Monatsende übrig war, um mit einem Lächeln auf den Lippen in den Ruhestand zu gehen. Alles, wovon wir träumten, war ein Häuschen auf dem Land, keine Weltreise, kein Luxus, nur ein sorgenfreier Lebensabend zu zweit.« Ihr Körper erbebte. »Sie haben mir alles genommen, Mr. Rodriguez!«
Roque wollte protestieren, schwieg jedoch, denn er hatte schließlich die Lawine ausgelöst, die über das Ehepaar hinweggerollt war.
»Ich wurde vor unserer Haustür in diesem schrecklichen Viertel überfallen. Ein junger Mann entriss mir meine Handtasche und meine Einkaufstüten und stieß mich gegen eine Wand. Corkey hat wie ein Schlosshund geheult, als er meine Schulter sah – sie war grün und blau.« Leise schluchzte Alora. »Danach sprach er tagelang nicht. Ich fand ihn vorgestern in unserem Ehebett. Er trug seinen besten Anzug. Seine Medikamente und ein Abschiedsbrief lagen auf der Kommode. Er hatte alle Pillen auf einmal geschluckt. Das hat sein Herz nicht mitgemacht, aber die Ärzte meinten, er wäre eigentlich an seinem Erbrochenen erstickt.«
»Das tut mir unendlich leid«, hörte Roque sich sagen und erkannte seine eigene Stimme nicht wieder.
Leise weinte Alora. »Corkey schrieb, dass ich besser ohne ihn dran wäre. Er hätte mich ins Unglück gestürzt.«
»Das hat er nicht so gemeint.« Jody beugte sich von hinten über ihre Mutter und drückte sie. »Er litt unter Depressionen.«
Zaghaft nickte Alora. »Ich habe mich wirklich bemüht, ihn aus diesem Loch herauszuholen, aber ich habe es nicht geschafft, weil es mit uns immer tiefer bergab ging.«
Es war Roques Schuld, allein seine! Er hatte sie in den Ruin getrieben. Am liebsten hätte er sich selbst eine runtergehauen.
Inzwischen flossen auch bei Jody Browne die Tränen. Sie küsste ihre Mutter auf die Wange, richtete ihren Oberkörper wieder auf, ließ ihre Hand jedoch auf Aloras Schulter liegen, wohl um den Körperkontakt zu halten. Das zeigte ihm, dass die beiden Frauen doch ein vollkommen anderes Verhältnis zueinander hatten als er zu seinem Vater und seiner Mutter. Damals, als die Cusacks erwähnten, dass sie sich mit ihrer Tochter zerstritten hatten, hatte er geglaubt, sie wären ebenso schlechte Eltern wie die seinen. Doch er lag falsch, wie er jetzt erkannte.
Alora putzte sich die Nase. »In seinem Abschiedsbrief erwähnte er auch Sie.«
»Mich?« Roque wurde flau. Er stellte den Abfalleimer zwischen seine Beine, denn er schmeckte den Burrito bereits auf seiner Zunge.
»Er schrieb«, tief atmete sie ein, »Sie hätten uns unsere Existenz geraubt, deshalb würde Ihnen auch dies hier zustehen.«
Mit zittrigen Händen nahm er die Tüte an, die auf Aloras Schoß gelegen hatte und die sie ihm jetzt reichte. »Was ist das?«
»Sein letztes Hemd. Mögen Sie eines Tages Ihre gerechte Strafe erhalten, Mr. Rodriguez!« Alora gab ihrer Tochter ein Zeichen, worauf diese sie im Rollstuhl aus dem Maklerbüro hinausschob.
Roque war sicher, sie nie wiederzusehen. Er hätte erleichtert sein sollen, stattdessen fühlte er sich wie ein Stück Dreck. Er bewunderte diese alte Dame. Sie war nicht gekommen, um ihm Vorwürfe zu machen, sondern um den letzten Willen ihres Mannes auszuführen. Trotz allen Leids bemühte sie sich, Haltung zu bewahren.
Als hätte der Tote jeden Moment aus der Tüte steigen können, stellte Roque die Plastiktragetasche ins Regal an der Wand, so weit weg wie möglich von ihm. Er verstand sehr wohl, was Mr. Cusack ihm mitteilen wollte: Er hatte Corkey nackt ausgezogen und damit ins Grab gebracht.
Roque griff in die unterste Schublade seines Schreibtischs und holte den billigen Rum heraus, von dem er sich jeden Tag ein Gläschen oder zwei gönnte, seit er wusste, dass er weder das Thunderbird Coupé noch sein Geschäft halten konnte. Ohne zu zögern, schraubte er den Verschluss ab, setzte den Flaschenhals an den Mund und trank. Die goldbraune Flüssigkeit brannte in seiner Kehle, sie wärmte aber auch seinen Bauch und lähmte seine trüben Gedanken.
Plötzlich vernahm er ein irrsinniges Lachen und merkte erst einen Moment später, dass es von ihm selbst kam. Welch eine Ironie! Endlich hatte er sich selbst wiedergefunden und sah klar, und schon benebelte er seine Gedanken mit Alkohol, weil er die Scherben, die er hinterließ, nicht ertrug. Er hätte feiern können, zur Vernunft gekommen zu sein. Beinahe wäre er wie sein
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