Eisiger Dienstag: Thriller - Ein neuer Fall für Frieda Klein 2 (German Edition)
umherirrte.
Menschen kamen und gingen. Manchmal bewegten sie sich so rasch und sprachen so schnell, dass alles verschwamm und sie die Leute nicht mehr erkennen konnte. Es war, als stünde sie auf einem Bahnsteig, während die anderen in einem Zug saßen, der nicht anhielt, sondern mit hundertfünfzig Stundenkilometern vorbeiraste. Manchmal versuchten die Leute trotzdem etwas zu sagen, doch sie konnte es nicht verstehen. Mit den anderen Patienten auf der Station war es das Gleiche gewesen. Sie hatte sie gesehen und gehört wie im blitzenden Licht eines Stroboskops, und immer schienen sie vor Schmerz, Wut oder Verzweiflung zu schreien, was zur Folge hatte, das sie deren Schmerz, Wut und Verzweiflung plötzlich selbst spürte. Es war, als verbrächte sie Tag für Tag umgeben von Presslufthammern, Sirenen, Warnsummern und Blitzlichtern, während gezackte Messerklingen ihr immer wieder in Augen, Ohren und Mund stachen. Manchmal fühlte es sich auch an wie ein Schwarm bösartiger Insekten, die irgendwie in ihren Körper geraten waren und nun versuchten, sich mit ihren scharfen Kiefern und Klauen einen Weg nach draußen zu kauen und zu kratzen. Jeden Tag fand sie wieder Sachen, die sie versteckte und dann sorgfältig ordnete: Seifenreste aus dem Bad, ein kleines Stück Silberfolie von einem Tablettenbehälter, ein Stück Heftpflaster, eine Schraube. Sie arrangierte die Sachen in einer Pillendose, die jemand auf dem Regalfach neben ihrem Bett zurückgelassen hatte. Hin und wieder warf sie einen Blick darauf, und manchmal stellte sie plötzlich fest, dass die Reihenfolge nicht stimmte, und sie nahm die Sachen heraus, um sie anschließend wieder richtig einzuordnen.
Die meiste Zeit war es ziemlich schlimm. Es kam ihr vor, als wäre sie mitten im Meer mutterseelenallein auf einem Felsen ausgesetzt worden, wo es ihr entweder zu heiß oder zu kalt war, zu trocken oder zu nass, sie aber nicht schlafen konnte, weil sie sonst heruntergespült und gegen den Felsen geschleudert und dann vom Meer davongetragen würde, so dass sie nie wieder zurückfände.
Doch es war besser geworden, nachdem man sie in ein Einzelzimmer verlegt hatte – als wäre sie in ein ruhiges kleines Loch entkommen, weg von den Bohrern und Blitzlichtern. Dort gab es einen Fernseher. Wenn sie davorsaß, waren das körnige Licht und die hektischen Geräusche anfangs eine Qual, aber gleichzeitig hatte beides auch etwas Beruhigendes. Sie bekam dabei das Gefühl, dass etwas Warmes über sie hinwegspülte, und deswegen sah sie den sich bewegenden Formen oft stundenlang zu. Zeitschriften gab es auch: heitere, lächelnde Gesichter, die sie ansahen und um ihre Freundschaft und Zustimmung baten. Sie konnte hören, wie sie mit ihr redeten, und lächelte zurück, aber manchmal ertappte sie die Gesichter auch dabei, wie sie über sie redeten, woraufhin sie jedes Mal die Zeitschrift zuklappte und ihnen eine Lektion erteilte, indem sie sie zwischen den Seiten einsperrte. Außerdem gab es da noch die Schwester. Manchmal war sie eine Weiße, sprach jedoch mit einem Akzent. Manchmal war sie Asiatin, manchmal Afrikanerin. Aber sie führte sie immer durch einen hellen Gang, wo das grelle Licht sie blendete, setzte sie dann in einen Stuhl, lehnte sie zurück und wusch ihr das Haar. Sie spürte die Finger warm auf dem Kopf. Dieses Gefühl erinnerte Michelle Doyce an etwas lange, lange Zurückliegendes, tief Verschüttetes, einen Ort, wo sie gehalten und behütet wurde. Und dann gab es da noch die zwei Tiere: den Teddybären und den Hund. Sie saßen auf ihrem Bett. Sie schliefen bei ihr. Der Hund hatte Knopfaugen. Sie wusste, dass es nur Spielzeugtiere waren. Trotzdem hatte sie so ein Gefühl, das sie nie verließ. Wie ein Kind, das mit einem tief schlafenden Elternteil an seiner Seite im Bett liegt – jemandem, der sich nicht bewegt, aber dennoch warm und lebendig ist. So war es auch mit den beiden Tieren: Sie wussten über alles Bescheid und passten auf sie auf. Wenn ihr die Geräusche und die Lichter zu viel wurden, konnte sie die beiden ansehen und sie neben sich spüren.
Am besten aber war es, wenn die Lichter verschwanden und die Geräusche sich legten wie ein Sturm, der seine ganze Kraft verbraucht hatte. Es ertönte ein Ruf, gefolgt von Gemurmel. Dann flackerte es, und die Lichter gingen aus. Trotzdem wurde es nicht sofort dunkel. Das Licht blieb noch eine Weile in Michelle Doyces Augen, wie ein dumpfer Schmerz, ein Nachglimmen aus giftigem Grün, das sich in schmutziges
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