Eisiges Blut

abschloss. Sie ging behutsam vor, damit sie die Patientin, die eine altmodische Empfindlichkeit zeigte, nicht schockierte. Wer immer sie wirklich war und wo auch immer sie herkam, ganz offensichtlich lebte sie in einem anderen Jahrhundert, und sei es nur in ihrer Vorstellung. Einmal hatte Charlotte einen Patienten gehabt, der davon überzeugt war, er sei der Papst. Ständig musste sie darauf achten, ihn mit Seine Heiligkeit anzusprechen. Wie zu erwarten, wirkte Eleanor beim Anblick des Blutdruckmessgeräts verwirrt, und auch die Taschenlampe, mit der Charlotte ihr in die Augen leuchtete, rief Erstaunen bei ihr hervor. Die ganze Zeit über beobachtete sie Charlotte mit einer immer stärker werdenden Wachsamkeit, vermischt mit Verblüffung. Was, fragte Charlotte sich, mochte sie wohl von ihr halten, einer großen, schwarzen Frau in einem auffallend gemusterten Pullover, lila Hosen und geflochtenem, gestreiftem Haar, das zu einem unordentlichen Knoten hochgebunden war?
    »Sind Sie … Krankenschwester?«, flüsterte Eleanor schließlich. Sie hatte tatsächlich einen britischen Akzent.
    Nun, es hätte schlimmer kommen können, dachte Charlotte. »Nein, ich bin Ärztin.«
    »Ich bin Krankenschwester«, sagte Eleanor und hob eine blasse Hand zu ihrer Brust.
    »Wirklich?«, sagte Charlotte. Sie war froh, sie sprechen zu hören, während sie die Spritze zur Blutentnahme vorbereitete.
    »Bei Miss Nightingale.«
    »Tatsächlich?«, sagte Charlotte, ehe sie die Worte wirklich erfasst hatte. Eleanor hatte sie ausgesprochen, als hoffte sie, damit Eindruck zu machen. Und natürlich taten sie das. Nachdem sie die Nadel gegen das Licht gehalten hatte, hielt sie inne und sagte: »Moment, sprechen Sie von Florence Nightingale?«
    »Ja«, erwiderte Eleanor, offensichtlich glücklich, weil dieser Name noch immer ein Begriff war. »Im Krankenhaus in der Harley Street … und dann auf der Krim.«
    Florence Nightingale? Die Dame mit der Lampe? Die … wann lebte? Geschichte war nie Charlottes Lieblingsfach gewesen. Wie lange war das her, zweihundert Jahre? Oder mehr, oder weniger?
    Konzentrier dich,
sagte Charlotte sich wieder.
Konzentration.
Sie durfte nichts tun, was die Patientin erschrecken, oder in diesem Fall, ihre Vorstellungswelt erschüttern könnte, die vielleicht entscheidend für ihre geistige Stabilität war.
    »Nun, Miss Ames, Sie haben eine lange Reise hinter sich, um an diesen Ort hier zu gelangen.« Charlotte rollte den Ärmel des Kleides hoch. Der Stoff war rau und steif und fühlte sich an wie ein Bühnenkostüm. »Selbst heutzutage ist es nicht einfach, hierherzukommen.« Sie rieb eine Stelle mit Alkohol ein. »Jetzt halten Sie bitte kurz still, es wird kurz pieksen, und in ein paar Sekunden ist es überstanden.«
    Eleanors Blick wanderte zu der Nadel. Sie verfolgte, wie das Blut in den Kolben gesogen wurde, als hätte sie diese Prozedur nie zuvor gesehen. Hatte sie tatsächlich noch nie Blut abgenommen bekommen? Konnte das sein? Aus reiner Neugier nahm Charlotte
sich vor, Florence Nightingale im Lexikon nachzuschlagen, sobald sie mit der Untersuchung fertig war.
    Michael kam zurück, als sie gerade die Kanüle herauszog. Er trug ein Tablett, auf dem nicht nur eine Tasse Kakao, sondern auch ein Blaubeermuffin und ein paar Rühreier unter einem stabilen Kunststoffdeckel standen. Während er sich nach einem Platz umsah, an dem er das Tablett abstellen konnte, öffnete Charlotte den Minikühlschrank, in dem die verderblichen Medikamente und die Beutel mit den Blutkonserven aufbewahrt wurden, und stellte die Blutprobe zur sicheren Aufbewahrung hinein. Sie merkte, dass Eleanor immer noch jede ihre Bewegungen verfolgte. Für jemanden, der behauptete, mehr als hundert Jahre alt zu sein, sah sie von Minute zu Minute lebendiger aus.
    Aber gefroren in einem Eisberg, womöglich für Jahrhunderte? Es fiel Charlotte schwer, das zu glauben. Doch jede andere Erklärung dafür, wer sie war oder wie sie nach Point Adélie gekommen war, war fast noch unglaublicher. Immerhin befanden sie sich an einem der abgelegensten und unzugänglichsten Orte auf der Erde.
    »Haben Sie Hunger?«, fragte Michael und fand schließlich einen Platz auf einer Instrumentenablage. Er rollte damit zur Untersuchungsliege und fragte: »Können Sie sich hinsetzen?«
    Er legte einen Arm um Eleanors zarte Schulter und brachte sie mit Charlottes Hilfe in eine sitzende Position. Ihren Rücken stützte er mit Kissen ab. Sie betrachtete das Essen mit einer Art