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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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höflichem Desinteresse, als sei es etwas, was sie zuvor schon einmal gesehen hatte, ohne es genauer einordnen zu können.
    »Probieren Sie den Kakao«, sagte er. »Er ist heiß.«
    Als sie den Becher an ihre blassen Lippen hob, sagte Michael zu Charlotte: »Murphy ist draußen. Er will dich sprechen.«
    »Gut. Ich muss auch mit ihm reden.«
    Charlotte nahm ihr Klemmbrett, auf dem sie die Ergebnisse der Untersuchung notiert hatte, und überließ die geheimnisvolle
Eleanor Ames Michaels Obhut. Ehrlich gesagt war sie froh, verschwinden zu können. Seit sie die Krankenstation betreten hatte, empfand sie ein Fröstelgefühl, und sie glaubte nicht, dass es nur eine Reaktion auf die kalte, klamme Haut der Patientin oder ihre eisige Kleidung war. Es war, als wäre sie bei all ihrer Erfahrung und trotz ihrer Ausbildung auf etwas gestoßen, das vollkommen jenseits ihrer Erfahrung und Vorstellungskraft lag.
     
    Bis auf den Wind, der draußen vor dem Fenster pfiff, war es still in der Krankenstation. Eleanor setzte den Becher ab. Ein bisschen von dem weißen Schaum hing an ihren Lippen, und mit gesenktem Blick sagte sie zu Michael: »Es tut mir leid, dass ich Ihnen in der Kirche wehgetan habe.«
    Er lächelte. »Ich habe schon schlimmere Schläge eingesteckt.«
    Als er und der andere Mann versucht hatten, sie aus der kleinen Kammer zu führen, hatte sie sich geweigert, mitzukommen. Sie erinnerte sich daran, dass sie Michael auf die Brust und die Arme geschlagen hatte. Doch ihre Hiebe hätten nicht einmal einem Spatz etwas anhaben können. Eine Sekunde später, nachdem sie ihre letzte Kraft bei dem Angriff aufgebraucht hatte, war sie weinend auf dem Boden zusammengebrochen. Michael und Lawson hatten sie nach draußen getragen. Sie hatte protestiert, war aber zu keinem weiteren Widerstand in der Lage gewesen. Die Männer hatten sie auf den Sattel von Michaels Maschine gesetzt und waren mit ihr in dem rasch aufziehenden Sturm zurück zu dieser Siedlung gefahren.
    »Ich weiß, dass Sie mir nur helfen wollten.«
    »Und das versuche ich immer noch.«
    Sie nickte kaum merklich und hob den Blick, um ihm in die Augen zu schauen. Wie konnte er jemals wissen, oder sich auch nur vorstellen, was sie durchgemacht hatte? Sie brach ein Stück von dem Muffin ab und sah sich im Raum um.
    »Wo bin ich?«
    »In der Krankenstation. Auf der amerikanischen Forschungsstation, von der ich Ihnen erzählt habe.«
    »Ach ja … «, murmelte sie und aß schließlich ein winziges Stück von dem Muffin. »Aber ist das hier ein Teil von Amerika?«
    »Eigentlich nicht. Point Adélie, die Forschungsstation, liegt am Südpol.«
    Der Südpol. Das hätte sie sich denken können. Offensichtlich war die
Coventry
so weit vom Kurs abgekommen, dass sie tatsächlich den Pol selbst erreicht hatten. Den am wenigsten erforschten Ort der Erde. Sie fragte sich, ob das Schiff die Reise überstanden und irgendeiner der Männer an Bord überlebt hatte, um ihre Geschichte zu erzählen. Und wenn ja, waren sie dreist genug gewesen, um
alles
zu erzählen? Hätten sie zum Beispiel ihre Kumpane in der Taverne mit der Geschichte unterhalten, wie sie einen mutigen Soldaten und eine kranke Krankenschwester mit einer eisernen Kette gefesselt und über Bord geworfen hatten?
    »An den Eiern ist etwas geschmolzener Käse«, sagte Michael. »Onkel Barney, das ist unser Koch, macht sie immer so.«
    Er versuchte freundlich zu sein. Und das war er auch. Aber es gab so vieles, das er niemals erfahren und das sie niemals einem Menschen erzählen durfte. Wie konnten sie auch nur das Wenige glauben, das sie ihnen bisher erzählt hatte? Hätte sie es nicht selbst erlebt, hätte sie es für zu phantastisch gehalten, um wahr zu sein. Sie griff nach der Gabel und probierte die Eier. Sie waren gut, gesalzen und immer noch warm. Dieser Michael Wilde beobachtete anerkennend, wie sie aß. Er war groß, sein Gesicht war unrasiert und das schwarze Haar sah genauso wild und zerzaust aus wie bei ihrem jüngeren Bruder, wenn er seinen Drachen auf den Wiesen hatte steigen lassen.
    Ihr jüngerer Bruder, der bereits seit mehr als hundert Jahren in seinem Grab lag.
    Tot. Sie waren alle tot. Es war, als läutete eine Totenglocke in ihrem Kopf. Es war unerträglich, daran zu denken. Sie nahm einen weiteren Happen vom Ei.
     
    Obwohl ihm immer noch tausend Fragen auf der Zunge lagen, wollte Michael sie nicht beim Essen stören. Wer weiß, wie lange es her war, seit sie zuletzt etwas Warmes gegessen hatte? Jahre?

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