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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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zurück ins Lager?
    All seine Überlegungen mündeten schließlich in die Frage, wie er sie befreien sollte.
    Die Hindernisse waren immens, vor allem, da er nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Selbst wenn es ihm gelänge, sie zu finden und zu befreien, wohin sollten sie auf diesem Kontinent des ewigen Eises fliehen? Ihm war, als starrte er einen schmalen Hohlweg hinunter, der in den sicheren Untergang führte, so wie an jenem frischen Oktobermorgen in Balaklawa. Doch er hatte
die Apokalypse überlebt, und noch Schlimmeres. Egal, wie hoffnungslos es für ihn ausgesehen hatte, es war ihm stets gelungen, das Blatt zu wenden und ein neues Kapitel in seinem Leben zu beginnen.
    Und er hatte mit Sicherheit einige Vorteile, dachte er grimmig. Eine Tasse mit frischem Robbenblut stand an seinem Ellenbogen wie ein Kelch, neben einem Gedichtband, der mit ihm von England auf die Krim und nun zu diesem Vorposten der Hölle gereist war. Er öffnete ihn und ließ den Zufall die Seiten aufklappen. Er blickte auf das vergilbte Papier, steif wie Pergament, und las:
    »Allein, allein, ganz allein
    Auf weiter, weiter See!
    Nicht lindert meine Todesangst
    Ein Heil’ger in der Höh’!
    So viele Menschen, schön und stark!
    Und keiner rührte sich!
    Und tausend Tier’ im Moderschlamm,
    Sie lebten; und auch ich!«
    Wenngleich für die meisten Menschen in diesen Worten herzlich wenig Trost lag, empfand er sie als Ermutigung. Nur ein Dichter schien die schreckliche Wahrheit seiner Situation nachempfinden zu können.
    Die Hunde heulten. Sinclair säbelte weitere Streifen von dem Robbenfett ab und warf sie in das Kirchenschiff. Die Krallen der Tiere kratzten auf dem Steinfußboden, als sie sich darum balgten, und ihr Gebell hallte hinauf zu den Dachsparren.
    Von seinem hohen Stuhl hinter dem entweihten Altar aus überblickte Sinclair sein leeres Reich. Er malte sich die Mienen der Walfänger aus, die einst die Kirchenbänke gefüllt hatten, die Gesichter verschmiert mit Fett und Ruß, die schmutzigen Kleider
steif vom getrockneten Blut. Sie hatten zu dem Altar aufgeblickt, die Hüte in den Händen, und dem Prediger gelauscht, der die Vorzüge des Lebens im Jenseits pries, von den großzügigen Schätzen sprach, die sie im Himmel angesammelt hatten und die sie für die Qualen entschädigen würden, die sie Tag für Tag ertrugen. Sie hatten hier gesessen, in dieser trostlosen Kirche, in der selbst das Kruzifix roh gezimmert und schmucklos war; in einer eisigen Einöde, umgeben von Flensdecks und kochenden Kesseln, Haufen von Eingeweiden und Bergen von Knochen. Hier hatten sie Geschichten von weißen Wolken und goldenem Sonnenlicht gelauscht, von grenzenloser Glückseligkeit und ewigem Leben. Von einer Welt, die kein stinkendes Schlachthaus war. Oh, wie waren sie getäuscht worden, dachte Sinclair.
    So wie man ihn einst mit Geschichten über Ruhm und Heldenmut getäuscht hatte. Als er auf seiner Pritsche im Lazarett gelegen hatte, ganz besessen von einem wachsenden und unerklärlichen Verlangen, hatte er sich zu einer Tat hinreißen lassen, die er seitdem bedauerte, aber nie wieder ungeschehen machen konnte. Der Blutdurst, den die gottlose Kreatur auf dem Schlachtfeld von Balaklawa erzeugt hatte, war zu stark geworden, um ihm zu widerstehen. Er war über einen hilflosen Highlander hergefallen, der zu schwach war, um sich gegen ihn zu wehren.
    Die Türken würden ihn jetzt zu den Verfluchten zählen, und er könnte es nicht abstreiten.
    Als Eleanor ihn am nächsten Abend besucht hatte, hatte er sich deutlich kräftiger gefühlt. Wie neu belebt. Es war ihm, als könnte er wieder richtig atmen und klarer sehen. Selbst seine geistigen Fähigkeiten schienen wiederhergestellt.
    Fühlte man sich so als Verdammter?
    Aber in Eleanors Gesicht hatte er etwas Beunruhigendes entdeckt, die ersten Anzeichen des mysteriösen Krimfiebers. Er kannte die Zeichen gut, schließlich hatte er sie unzählige Male bei anderen gesehen. Seine Ängste wurden bestätigt, als sie
schwankte und die Suppe verschüttete. Die Wärter mussten sie aus dem Krankensaal führen. Am folgenden Abend, als Moira an Eleanors statt kam, um ihn zu versorgen, wusste er, dass es schlimm stand.
    »Wo ist Eleanor?«, wollte er wissen und stützte sich auf den Ellbogen. Die Bewegung war schmerzhaft, und er vermutete, dass er sich bei dem Sturz vom Pferd ein oder zwei Rippen gebrochen hatte. Doch bei einer gebrochenen Rippe gab es nichts zu tun, und alles, was die Chirurgen mit ihm machen

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