Eisiges Blut
dem ersten Läuten ran.
»Ich hoffe, ich habe dich nicht aufgeweckt«, sagte Michael. Die atmosphärischen Störungen waren nicht mehr als ein leises Knistern.
»Michael?« Gillespie schrie beinahe. »Mann, du bist aber schwer zu erreichen!«
»Ja, hier unten geht alles drunter und drüber.«
»Warte eine Sekunde, ich stelle kurz die Stereoanlage leiser.«
Michael starrte auf den Notizblock auf dem Schreibtisch. Jemand hatte eine Skizze vom Weihnachtsmann auf einem Schlitten hingekritzelt, und es war gar nicht mal so schlecht geworden. Michaels Gedanken wanderten zurück zum letzten Weihnachtsfest. Kristin hatte ihm ein Notzelt geschenkt und er ihr eine Akustikgitarre. Sie hatte nie die Zeit gehabt zu lernen, darauf zu spielen.
»Also, schieß los«, sagte Gillespie, als er wieder am Telefon war. »Wie sieht es mit der Story aus? Ich will die Layouter so schnell wie möglich auf das Cover und den Artikel ansetzen, und sobald du einen ersten Entwurf von dem Text hast, egal, wie grob er ist, will ich ihn sehen.« Er sprach so schnell, dass sich die Worte zu überschlagen schienen. »Was gibt es Neues von den Leichen im Eis? Habt ihr sie inzwischen aufgetaut? Oder irgendetwas darüber herausgefunden, wer sie sind?«
Was sollte Michael darauf antworten? Dass er nicht nur wusste, wer sie waren, sondern sogar ihre Namen kannte? Weil sie sie ihm genannt hatten?
»Ich bin natürlich vor allem an dem Mädchen interessiert«, gab Gillespie zu. »Wie sieht sie aus? Ist sie vollkommen verwest? Oder können wir sie auf einem ganzseitigen Foto zeigen, ohne unsere jüngeren Leser zu erschrecken?«
Michael wusste weder aus noch ein. Er wollte nicht anfangen, eine Haufen Lügen zu erzählen, aber ihm stand eindeutig auch nicht der Sinn danach, die Wahrheit zu sagen. Der Gedanke, ihm Eleanor zu beschreiben, ihre Vorzüge als gutes Fotomotiv herauszustellen, war ihm zuwider.
»Ich hoffe, sie ist gut genug erhalten, um irgendwo gezeigt werden zu können«, plapperte Gillespie weiter. »Die NSF wird mit ihr angeben wollen. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie irgendeine Show im Naturkundemuseum mit ihr inszenieren.«
Michaels Herz sank immer tiefer. Er bereute, dass er Gillespie
so schnell über den Fund informiert hatte, und wünschte mehr als alles andere, dass er die Zeit zurückdrehen und noch einmal von vorn beginnen könnte. Oder dass er alles zurücknehmen könnte. Ihm wurde klar, dass er jetzt damit beginnen musste.
»Ich fürchte«, sagte er, »dass ich etwas voreilige Schlüsse gezogen habe.«
»Voreilige Schlüsse«, wiederholte Gillespie, zur Abwechslung einmal langsam. »Was meinst du damit?«
Ja, was meinte er damit? Er konnte sich den Flaum auf Gillespies Kopf vorstellen, der sich mit jeder Sekunde weiter aufrichtete. »Die Leichen, na ja, es hat sich herausgestellt, dass sie nicht das sind, wofür ich sie gehalten habe.«
»Worauf zum Teufel willst du hinaus? Entweder sind es Leichen oder nicht. Tu mir das nicht an, Michael. Willst du sagen, dass … «
Während er redete, schüttelte Michael das Telefon, und als er ein paar Sekunden später den Hörer wieder ans Ohr hielt, sagte er: »Tut mir leid, du warst gerade kurz weg. Kannst du bitte wiederholen, was du gerade gesagt hast, Joe?«
»Ich habe dich gefragt, ob die Geschichte stimmt oder nicht. Denn wenn du mich nur aufziehst, finde ich das überhaupt nicht witzig!«
»Ich habe dich nicht verarscht«, erwiderte Michael und hielt das Telefon auf Armeslänge von sich weg, um den besten Effekt zu erzielen. »Ich schätze, ich habe mich geirrt. Es war überhaupt keine Frau.«
»Was war es dann? Eine aufblasbare Gummipuppe?«
»Eine wirklich gut gemachte Galionsfigur.« Einen Augenblick war Michael von seinem eigenen Einfallsreichtum beeindruckt. »Ziemlich alt und sehr schön, aber eben keine Frau. Und es gibt auch keinen Mann, der hat sich als ein hübsch angemaltes Stück Holz im Eis hinter ihr entpuppt. Es müssen Teile von irgendeinem Schiffswrack sein.« Er könnte die Geschichte noch weiter
ausschmücken, doch er wollte Gillespie nicht zu scharf auf Bilder von der Galionsfigur machen, weil er sich dann womöglich eine zurechtschnitzen musste. »Ich kann dir gar nicht sagen, Joe, wie peinlich mir das ist.«
»Peinlich?«, hörte Michael aus weiter Ferne. »Das ist alles? Es ist dir peinlich? Ich hatte vor, dich zum Aushängeschild für das
Eco Travel-Magazine
zu machen. Ich hatte geplant, richtig viel Geld zu berappen und eine Werbeagentur
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