Eisiges Blut
und darauf zu hoffen, dass sie vom ersten Schiff gerettet würden, das ihnen begegnete. Offensichtlich gab es hier eine Handelsverbindung, und wenn Eleanor und er sich etwas von der modernen Kleidung beschafften und eine plausible Erklärung parat hätten, würde ein anderes Schiff sie vielleicht an Bord nehmen und sie in die Zivilisation zurückbringen.
Dort könnten sie unter Menschen untertauchen, die nichts von ihrem schrecklichen Geheimnis wussten und auch nie davon erfahren würden. Sobald sie das geschafft hatten, vertraute Sinclair darauf, dass sie sich dank seines angeborenen Verstandes schon durchschlagen würden. Er war notgedrungen ein Meister des Improvisierens geworden.
Die äußere Tür wurde geöffnet, wobei Metall auf Eis kratzte und ein eisiger Luftzug hereinwehte, erfrischend nach der stickigen Wärme, den die kleinen Öfen ausstrahlten. Sobald er den Mantel, die Handschuhe und die dunklen Augengläser abgelegt hatte, erkannte er den Mann wieder. Es war Michael Wilde, dem er in der Schmiede das erste Mal begegnet war. Dort hatte der Bursche einen recht vernünftigen Eindruck auf ihn gemacht, doch Sinclair war entschlossen, auch weiterhin niemandem zu vertrauen.
Wilde hatte ein in schwarzes Leder gebundenes Buch mit Goldprägung bei sich.
»Ich dachte, dass Sie das vielleicht gerne zurückhätten«, sagte Wilde und reichte ihm das Buch, doch Franklin schoss hoch und ging dazwischen.
»Der Chief hat gesagt, wir sollen ihm nichts geben. Du weißt nicht, was oder wie er es benutzen könnte.«
»Es ist nur ein Buch«, sagte Wilde und ließ Franklin einen Blick darauf werfen. »Mit Gedichten.«
Daraufhin runzelte Franklin die Stirn. »Sieht ziemlich alt aus«, sagte er und blätterte darin.
»Wahrscheinlich eine Erstausgabe«, stellte Wilde mit einem Blick auf Sinclair fest und reichte ihm das Buch.
»Es ist von einem Mann namens Samuel Taylor Coleridge«, sagte Sinclair und nahm es ungeschickt mit den gefesselten Händen entgegen. »Und so weit ich weiß, hat es noch keiner Seele etwas zuleide getan.«
Michael sah ein, dass diese Vorsichtsmaßnahmen notwendig waren, trotzdem war es ihm peinlich.
»Ach ja«, sagte er, bevor er die wenigen Zeilen rezitierte, an die er sich aus der Schule erinnerte: »›In Xanadu schuf Kubla Khan/Ein prunkvolles Vergnügungsschloss./Wo Alph, der heil'ge Strom, durchfloss,/die tiefen Höhlen, unendlich groß,/hinab zum dunklen Ozean.‹ Ich fürchte, das ist alles, was ich von dem Gedicht noch weiß«, sagte er, doch Sinclair sah ihn trotzdem verblüfft an.
»Sie kennen sein Werk? Selbst heute noch?«
»Aber ja!«, bestätigte Michael ihm. »Die Dichter der Romantik werden in der Schule und am College gelesen. Wordsworth, Coleridge, Keats. Aber ich weiß immer noch nicht, was der Titel dieses Buches bedeutet.
Sibyllinische Blätter
.«
Sinclair strich über das Buch, als streichelte er den Kopf eines Hundes. »Die griechischen Sibyllen, oder Seherinnen, schrieben ihre Prophezeiungen auf Palmblättern nieder.«
Michael nickte. Er war beeindruckt, dass dieses Buch Sinclair so sehr am Herzen lag. Es war bei der Ausrüstung gewesen, die gepackt neben der Kirchentür gestanden hatte. »Ich habe gesehen, dass auch die
Ballade vom alten Matrosen
darin ist«, sagte er. »Das Gedicht ist immer noch sehr bekannt. Es steht auf vielen Lektürelisten.«
Sinclair blickte auf das Buch hinunter, und ohne es aufzuschlagen, stimmte er an: »›Ich stand wie einer, dem im Wald/Auf dunklem Pfade graut;/Der immer, immer vorwärts eilt/Und nimmer rückwärts schaut.‹«
Franklin sah äußerst ratlos aus.
»›Er weiß, ein Feind ist hinter ihm‹«, beendete Sinclair den Vers, »›sein Herz schlägt bang und laut.‹«
Die Worte schienen den Raum in Schweigen zu hüllen und erschütterten Michael bis ins Mark. Er fragte sich, ob Sinclair seine eigene Flucht so erlebte. Eine einsame Reise, auf Schritt und
Tritt von Dämonen verfolgt. Der gehetzte Ausdruck in seinem Gesicht, die dunklen Ringe um seine Augen, die aufgesprungenen Lippen, das blonde Haar, das am Kopf klebte, als hätte man ihn ertränkt – das alles bezeugte, dass es so war.
Franklin, der offenbar fürchtete, der Gedichtvortrag könnte weitergehen, sagte zu Michael: »Hast du was dagegen, wenn ich eine Pause mache?«
»Mach nur«, erwiderte Michael, und Franklin warf seine Illustrierte auf die Kiste und verschwand.
Als er fort war, legte Sinclair das Buch neben sich und lehnte sich gegen die Wand, während
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