Eisiges Blut
ergriffen hatte. Fieberhaft sah sie sich im Raum um, bis ihr Blick schließlich am Kühlschrank hängenblieb, in dem sie die Beutel mit Blut gefunden hatte. Sicherlich wurde dort auch das Serum aufgewahrt.
»Warte«, sagte sie, ging zum Kühlschrank und riss die Tür auf. Auf einem Drahtgitter lag ein Beutel, der genauso aussah wie der, aus dem Charlotte die Spritze aufgezogen hatte. Vielleicht war es sogar derselbe. Auf dem Etikett stand AFGP - 5 . Sie betete, dass es das richtige Mittel sei.
»Komm schon«, drängte Sinclair. »Was immer das auch sein mag, wir haben keine Zeit dafür.«
Doch Eleanor ignorierte ihn. Wenn sie ihn retten konnte, dann würde sie es tun. Sie hatte die Prozedur mit der Nadel oft genug gesehen, um sich zuzutrauen, ihm die Spritze selbst zu geben.
»Zieh deinen Mantel aus, schnell!«
»Was sagst du da? Hast du den Verstand verloren?«
»Tu, was ich sage. Ich werde mich nicht von der Stelle rühren, ehe du es nicht tust.«
Verzweifelt zog er sich mit einem Ruck den Mantel aus.
Sie holte den Beutel heraus und fand eine frische Nadel in einem der Schränke.
»Roll deinen Ärmel hoch!«, sagte sie und zog die Spritze auf.
»Eleanor, bitte, es gibt keine Hoffnung oder Hilfe für uns. Wir sind, was wir sind.«
»Sei leise«, wisperte sie. »Die Ärztin könnte dich hören.«
Sie rieb seine Haut mit Alkohol ab und klopfte auf den Arm, um die Adern hervortreten zu lassen. Anschließend drückte sie auf den Kolben der Spritze, wie sie es bei Charlotte gesehen hatte, um die Luft zu entfernen. »Bleib ganz ruhig«, sagte sie, stach mit der Nadel zu und drückte den Kolben nach unten. Sie wusste, dass er jetzt die zunehmende Kälte in seinem Blutstrom und eine leichte Desorientierung empfinden würde. Doch als sie die Nadel herauszog, schien er zunächst keine Wirkung zu spüren. Furcht ergriff sie, dass sie die falsche Medizin genommen oder sie fehlerhaft verabreicht hatte.
»Ich weiß nicht, welche Hexenkunst du gerade vollführt hast, aber können wir jetzt gehen?«, sagte er, rollte den Ärmel wieder herunter und zog den Mantel über seine Uniformjacke. Ein paar der goldenen Litzen hatten sich gelöst und baumelten wie Quasten herunter. »Wo ist dein Mantel?«
Torkelnd ging er zum nächsten Zimmer, wo er ihren Mantel und die Handschuhe fand, dann kam er zurück und begann sie darin einzuhüllen.
»Ich habe vor«, sagte er, »von der Walfangstation aus ein Boot zu Wasser zu lassen. Wir lassen uns auf dem Meer aufsammeln … «
Dann zitterte er am ganzen Körper und stolperte rückwärts auf die Bettkante. Erst jetzt sah sie seine neuen Stiefel.
Es war die richtige Medizin. Eleanor seufzte erleichtert. Jetzt war er außer Gefecht gesetzt, zumindest lange genug, damit sie ihm alles erklären konnte. Sie kniete neben dem Bett nieder, so dass der lange Mantel auf den Boden hing, und hielt seine kalten Hände in ihren. »Sinclair, du musst mir zuhören. Du musst verstehen, was mit dir geschieht.«
Mit unstetem Blick sah er sie an.
»Es dauert eine Weile, bis du die ganze Wirkung der Arznei spüren wirst. Doch wenn es soweit ist, wirst du nie wieder dieses
Verlangen verspüren, das du im Moment empfindest.« Selbst in ihren schlimmsten Zeiten, als sie in Kellern geschlafen oder ihre Pferde bei strömendem Regen über Gebirgspässe getrieben hatten, hatten sie immer nur sehr verblümt von ihrem Leiden gesprochen. »Aber die Ärztin hat mir erklärt … «
Bei diesen Worten räusperte er sich. »Die Ärztin … « Doch weiter kam er nicht.
»Die Ärztin, und auch alle anderen, haben gesagt, dass wir kein Eis mehr berühren dürfen. Begreifst du das? Wir dürfen kein Eis anfassen! Wenn wir es tun, werden wir sterben.«
Er starrte sie an, als hätte sie vollkommen den Verstand verloren. Dann lachte er bitter. »Ein Märchen, und du glaubst es.«
»O ja, Sinclair, das tue ich. Ich glaube es.«
»Dieses Land besteht aus nichts anderem als Eis. Gibt es einen besseren Weg, um dich zu ihrer gefügigen Gefangenen zu machen?«
Verzweifelt senkte Eleanor den Kopf. »Wir sind nicht ihre Gefangenen. Sie sind nicht unsere Feinde. Das hier ist kein Krieg.«
Doch als sie wieder aufblickte, wusste sie, dass für Sinclair immer noch Krieg herrschte und dass es immer so bleiben würde. Selbst wenn er von dem physischen Verlangen befreit wäre, das Leiden war so tief in seiner Seele verwurzelt, dass es ihn niemals loslassen würde. Mit Schweißperlen auf der Stirn und nasskalter Haut richtete er
Weitere Kostenlose Bücher