Eisiges Blut
Miss Nightingale schien ein wenig beschwichtigt. Sie kam in den Alkoven und untersuchte die frisch genähte Wunde.
Eleanor zitterte vor Angst, aber als sie zu Sinclair hinübersah, zwinkerte dieser ihr zu.
»Sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis dieser … unorthodoxen Behandlung?«, fragte Miss Nightingale.
»Sehr.«
Sie richtete sich auf und sagte, ohne Eleanor eines Blickes zu würdigen: »Ich auch.« Erst danach wandte sie sich an Eleanor und fügte hinzu: »Ausgezeichnete Arbeit.«
Eleanor holte zum ersten Mal seit fünf Minuten Luft.
»Aber wir können uns Vorkommnisse dieser Art nicht leisten. Der Ruf und das öffentliche Ansehen des Hospitals sind ständig in der Kritik. Bis acht Uhr früh will ich einen ausführlichen schriftlichen Bericht haben, Schwester.«
Zum Zeichen ihres Einverständnisses senkte Eleanor den Kopf.
»Und da Sie, Gentlemen, die Behandlung erhalten haben, die Sie brauchten, muss ich Sie bitten, jetzt zu gehen.«
Rutherford und Frenchie beeilten sich, ihre Zigarrenstumpen einzusammeln, und machten sich dann, mit Sinclair in ihrer Mitte, auf den Weg in die Halle. Miss Nightingale öffnete ihnen die Vordertür, während Eleanor sich neben ihr im Hintergrund hielt. Als die drei das Ende der Treppe erreicht hatten, trat Miss
Nightingale mit raschelndem Rock vor und sagte: »Passen Sie auf sich auf, und kommen Sie heil wieder zurück!«
Von ihrem ungünstigen Beobachtungsposten aus konnte Eleanor nur Lieutenant Copley sehen. Sein blondes Haar schimmerte im Licht der Straßenlaterne, und seine scharlachrote Jacke hatte er über die Schultern gelegt. Lächelnd schaute er zu ihr hoch. Unvermittelt empfand sie bei dem Gedanken an seine baldige Abreise in den Krieg eine heftige Sorge, vollkommen unerwartet und überraschend intensiv.
12 . Kapitel 6 .Dezember, 15 : 00 Uhr
Während jeder, der bei klarem Verstand war, beim Anblick des meeresbiologischen Labors in Point Adélie verzweifeln musste, war Darryl Hirsch außer sich vor Begeisterung. Der Boden bestand aus Betonplatten, die Wände aus vorgefertigtem, dreifach isoliertem Kunststoff, die Decke war niedrig und über dem ganzen Ort hing der modrige, salzige Geruch von altem Fisch und verschütteten Chemikalien.
Doch es war seins, und es gab niemanden, der ihm über die Schulter blickte, gleichgültig, welche Experimente und Studien er durchführte. Zum ersten Mal saß ihm nicht der hoch bezahlte und verräterische Pressesprecher Dr.Edgar Montgomery im Nacken, der ständig versuchte, Darryls Forschungen zu torpedieren und Gründe zu finden, um die finanziellen Mittel zu kürzen, was ihm auch schon ein paar Mal gelungen war. Dieses Labor mit den blubbernden Wassertanks und zischenden Luftschläuchen war Darryls eigenes kleines Reich.
Was die Ausstattung anging, so hatte die National Science Foundation das Labor mit so ziemlich allem bestückt, was er brauchte, von Mikroskopen, Petrischalen und Pipetten bis zu Respirometern und Plasmazentrifugen. Das große, runde, oben offene Wasserbecken in der Mitte des Raumes wurde das Aquarium genannt. Es war einen Meter zwanzig tief, groß genug, um ein Ruderboot darin schwimmen zu lassen, und wie eine Torte in drei
Teile geteilt. Die Aufteilung war von entscheidender Bedeutung, da viele im Wasser lebende Arten leider dazu neigten, einander aufzufressen. Im Augenblick beherbergte das Becken einen gewaltigen Dorsch, und jemand hatte einen handgeschriebenen Zettel an die Außenwand geklebt: »Ich bin ein einsamer Dorsch. Bitte streichle mich!« Aber Darryl wusste, dass das ein dummer und gefährlicher Streich war. Dorsche konnten ziemlich aggressiv werden, plötzlich nach oben steigen und nach allem schnappen, was man ihnen vor die Nase hielt, sei es eine Kamera oder eine menschliche Hand. Er entfernte den Zettel und warf ihn in den Mülleimer. An zwei Wänden standen lange Seziertische aus Metall, darüber befanden sich Regale mit weiteren kleineren Wasserbecken. Sie waren in blasses violettes Licht getaucht und mit seltsamen Kreaturen bevölkert: Seespinnen, Seeigel, Anemonen und Schuppenwürmer, die darin herumschwammen oder sich, wie der Seestern, am Glas festsaugten.
Den größten Teil der ersten Woche brachte Darryl damit zu, eine Bestandsaufnahme zu machen und das Labor zu organisieren, Dateien zu überprüfen und einen Arbeitsplan auszuarbeiten. Sobald wie möglich wollte er tauchen, um seine eigenen Exemplare zu fangen. Vor allem auf die Eisfische aus der Familie der
Channichthyidae
hatte er
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