Eisiges Blut
es abgesehen, von denen er unbedingt lebende Exemplare mit nach oben bringen wollte. Das war oft der schwierigste Teil, da Geschöpfe aus der Tiefsee, die unter frostigen Bedingungen lebten, überaus empfindlich auf jede Veränderung der Umgebungstemperatur, des Drucks und sogar der Lichtverhältnisse reagierten. Er hatte Murphy O'Connor bereits vorgewarnt, und der Chief hatte ihm versichert, dass vom Eisbohrer bis zur Tauchhütte alles zu seiner Verfügung stünde, solange er vorher die nötigen Formulare der NSF ausfüllte. Der Mann hatte so seine Ecken und Kanten, und er war ein Pedant, wenn es um die Regeln und Bestimmungen ging, aber Darryl hatte das Gefühl, dass er gut mit ihm klarkommen würde.
Auf einem Tisch neben der Tür hatte er eine Musik-Kompaktanlage entdeckt, besser als die, die er zu Hause hatte, sowie eine bunt gemischte CD -Sammlung. Er hatte keine Ahnung, wem er dafür zu danken hatte, der NSF oder anderen Meeresbiologen, die vor ihm hier gewesen waren, aber dankbar war er trotzdem. Gerade hatte er Bachs Partita in E-Dur aufgelegt – er hatte schon vor langer Zeit festgestellt, dass er sich bei Bach und Mozart am besten konzentrieren konnte. Vielleicht hörte er deswegen das Klopfen an der Tür nicht. Doch er spürte den kalten Luftzug, und als er von dem Objektträger aufblickte, den er gerade vorbereitete, sah er Michael, der seine pelzbesetzte Mütze zurückschob und seinen Parka öffnete. Eine Kamera an einem breiten Riemen hing an seinem Hals.
»Was hast du fotografiert?«
»Lawson und ich sind bei der alten Walfängerstation der Norweger gewesen. Ich dachte, ich könnte da ein paar schöne stimmungsvolle Bilder schießen.«
»Sag mir Bescheid, wenn du da noch einmal hingehst. Ich würde gerne mitkommen.«
Michael lachte. »Bist du sicher?« Er deutete mit dem Kinn auf die Wasserbecken mit den verschiedensten Meereslebewesen. »Das hier ist doch deine Vorstellung von einem Paradies. Ich krieg dich niemals von hier weg.«
Darryl hob die Schultern, als wollte er dem Einwand zustimmen, ehe er sagte: »Das stimmt nicht ganz. Wenn das Wetter es zulässt, werde ich morgen früh rausgehen.«
Wenn das Wetter es zulässt
war ein Halbsatz, mit dem fast jede Bemerkung in der Antarktis eingeleitet wurde.
Michael setzte sich auf einen Laborstuhl und wischte sich Schnee vom Ärmel. »Tatsächlich? Wo willst du hin?«
»Ins Seemannsgrab«, erklärte Darryl mit einer dramatischen Geste.
»Du gehst tauchen?«
»Ich denke schon«, sagte Darryl. »Oder hast du hier irgendwo Tauchboote herumliegen sehen?«
»Und wonach suchst du?«
Das war die große Frage und Darryl hatte keine einfache Antwort darauf. Um das zu erforschen, hatte er schließlich den ganzen weiten Weg auf sich genommen. »Es gibt über fünfzehn verschiedene Arten von Antarktisfischen«, sagte er und verzichtete absichtlich darauf, den lateinischen Namen zu verwenden, »die unter Bedingungen leben, die keine andere Spezies erträgt. Sie überleben vier Monate lang in gefrorenem Wasser und bei völliger Dunkelheit. Sie haben keine Schuppen, und sie haben kein Hämoglobin.«
»Mit anderen Worten, ihr Blut ist … «
»Farblos, genau. Selbst ihre Kiemen sind weiß und durchscheinend. Außerdem verfügen sie über eine Art natürliches Frostschutzmittel, ein Glykoprotein, das verhindert, dass sich in ihrem Körper Eiskristalle bilden.«
»Und du willst ein paar von diesen Fischen fangen?« An seinem Tonfall war deutlich zu merken, dass Michael alles, was er hörte, ziemlich bizarr fand, um es vorsichtig auszudrücken.
Aber daran war Darryl gewöhnt. »Sie einzufangen ist nicht besonders schwer. Sie schwimmen sehr langsam, und die meiste Zeit liegen sie nur am Meeresgrund und warten darauf, dass etwas Krill oder ein kleinerer Fisch vorbeikommt.«
»Was würden sie denken, wenn ich da vorbeikäme?«
»Willst du mitkommen?« An dem Lächeln in Michaels Gesicht konnte er erkennen, dass dieser es ernst meinte. »Kannst du denn tauchen?«
»Auf drei Kontinenten amtlich bestätigt.«
»Ich muss noch mit Murphy besprechen, ob das in Ordnung geht.«
»Nicht nötig!«, sagte Michael und sprang vom Stuhl auf. »Ich kümmere mich darum.« Er war schon aus der Tür, ehe er den
Reißverschluss seiner Jacke ganz zugezogen hatte, und Darryl fragte sich, ob sein Besucher intelligent oder absolut verrückt war. Hatte Michael eine Vorstellung davon, was auf ihn zukam?
Doch Michael wusste es. Wann immer sich ihm eine neue Herausforderung bot
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