Eisiges Blut

und Schwestern ermutigen meine Eltern zwar, es immer wieder zu versuchen, aber ich glaube, das machen sie nur, damit Mum und Dad das Gefühl haben, etwas zu tun.«
    Selbst über die Distanz von Tausenden Kilometern hörte Michael die Resignation und Trauer in ihrer Stimme. Karen war weder sentimental noch gläubig. Mr und MrsNelson waren Lutheraner und gingen regelmäßig zur Kirche, aber ihre Töchter hatten der Religion schon längst den Rücken gekehrt. Kristin hatte sich ihren Eltern offen widersetzt und sich sonntags zum Kajakfahren oder Klettern verabredet. Karen dagegen hatte die Kirchbesuche einfach immer weniger werden lassen. Irgendwann hatten die Eltern aufgegeben und sie nicht mehr gebeten, mitzukommen, und sie hatte damit aufgehört, sich Entschuldigungen auszudenken. Wenn es um Kristins Zustand ging, war es ähnlich. Gleichgültig,
was die Untersuchungen ergaben, ihre Eltern kämpften dagegen an, während Karen sich die Bilder vom CT aufmerksam anschaute, die neusten Ergebnisse offen mit den Ärzten diskutierte und ihre eigenen Schlüsse zog.
    Michael wusste, zu welchem Ergebnis sie gekommen war.
    Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, konnte er nicht still sitzen oder auch nur drinnen bleiben, was nicht ungewöhnlich für ihn war. Er zog seine Schlechtwetterausrüstung an, nahm die dunkelgrüne Schutzbrille und ging nach draußen, allein. Der Chief bestand zwar strikt darauf, dass sich niemand ohne Begleitung weit von der Station entfernte und jeder sich in der Liste am Schwarzen Brett einzutragen hatte. Aber Michael hatte vor, in der Nähe der Basis zu bleiben, und er brauchte ganz bestimmt keine Gesellschaft.
    Ein kräftiger Wind blies, und die amerikanische Flagge flatterte so heftig, dass sich das Knallen anhörte wie Gewehrschüsse. Michael wanderte einmal um die ganze Station herum, die mehr oder weniger quadratisch angelegt war. Neben den Hauptgebäuden, der Verwaltung mit der Kantine, den Schlafräumen und der Krankenstation, gab es, am Hang gelegen und außerhalb des campusähnlichen zentralen Platzes, zahlreiche Nebengebäude. Das waren die Labore für Meeresbiologie, Glaziologie, Geologie und Botanik sowie die Schuppen mit der Ausrüstung. Die Forschungsstation verfügte über Schneemobile, Boote, Planierraupen, geländetaugliche Fahrzeuge, Sprytes genannt, die aussahen wie Jeeps mit Traktorprofilen, und wer weiß noch alles. Alle Fahrzeuge standen in Baracken mit Blechdächern und Doppeltüren mit ungesicherten Schlössern untergebracht. Wer sollte hier auch etwas stehlen? Wo sollte man damit hin? In einem separaten Schuppen, dessen Boden aus festgetretener Erde bestand und mit Stroh bedeckt war, war ein Dutzend Huskys mit buschigem grauen Fell und eisblauen Augen untergebracht. In manchen Nächten vermischte sich ihr Heulen mit dem ständigen
Wind und schien wie das Rufen verlorener Seelen an den Außenwänden der Schlafräume entlangzustreichen.
    Als Michael an den schmalen Fenstern des Gemeinschaftsraumes vorüberkam, hörte er, wie jemand auf dem Klavier spielte. Er schaute hinein und entdeckte einen der Hiwis, einen Typ namens Franklin, wenn er sich richtig erinnerte, der gerade einen flotten Ragtime in die Tasten haute. Betty und Tina, zwei kräftige Glaziologinnen, schmetterten einen Tischtennisball mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms hin und zurück. Die beiden, hatte er gehört, hatten hier überwintert, was bedeutete, dass sie während des langen südlichen Winters, in dem die Sonne niemals schien, frische Vorräte nur selten kamen und die Welt da draußen genauso gut ein anderer Planet sein konnte, auf der Station geblieben waren. Man bekam für diese Leistung tatsächlich eine Medaille, und Michael hatte so ein Ding auch schon an Murphys Jackenaufschlag gesehen. Es war ein Ehrenabzeichen, ein Zeichen der Glaubwürdigkeit, dem die Hiwis und die Beakers gleichermaßen Respekt zollten.
    Sobald er um die Ecke des Gemeinschaftsgebäudes bog, traf ihn der Wind mit voller Kraft ins Gesicht, so stark, dass er sich dagegenlehnen konnte, ohne umzufallen. Michael ging vorsichtig über das lose Geröll hinunter zum eisbedeckten Strand, der Wind zerrte an seiner Kleidung. Es war niemals ganz klar, wo der Boden endete und nur noch Eis war, doch das machte kaum einen Unterschied. Beides war gleichermaßen steinhart und gnadenlos. In der Ferne konnte er eine Schar Pinguine erkennen, die einen vereisten Hügel hinunterrutschten und auf dem Bauch im eiskalten Wasser landeten. Mit