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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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behandschuhten Händen griff er nach der Kordel seiner Kapuze und zog sie fest zu, bis nur noch seine Schutzbrille unbedeckt war. Die Sonne, kalt und silbrig wie ein Eiszapfen, schwebte etwas höher am Himmel als in der letzten Woche und bewegte sich langsam dem südlichen Horizont und damit dem Vergessen entgegen. Das letzte Mal, als er nachgesehen
hatte, lag die Temperatur bei minus zwanzig Grad, aber dabei war der Chillfaktor des Windes nicht berücksichtigt.
    Etwas Grau-Weißes schoss vor seinem Gesicht vorbei, und instinktiv hob er schützend die Hand. Eine Sekunde später raste es wieder vorbei. Es war eine Raubmöwe, einer der aasfressenden Vögel in der Antarktis, und wahrscheinlich stand er zu nahe an ihrem Nest. Da er wusste, dass die Vögel stets auf den Kopf als den höchsten Körperteil jedes Eindringlings zielten, hob er einen Arm in die Höhe. Als der Vogel seine Hand mit dem Fäustling fast streifte, sah er sich um, weil er nirgendwo drauftreten wollte. Ein paar Meter hinter ihm befand sich ein winziges Hügelchen, das etwas Schutz vor dem tobenden Wind bot. Dort wachte das Weibchen des Raubmöwenpaares über zwei Jungen. Es hatte etwas lebenden Krill im Schnabel, den es gerade aus dem Meer gefischt haben musste. Die vielen Beine zuckten noch wie wild. Michael machte ein paar Schritte zurück, und der Möwenpapa, offensichtlich zufrieden mit seinem Rückzug, kehrte zum Nest zurück.
    Beide Jungen schrien nach Nahrung, aber eines war größer als das andere. Jedes Mal, wenn das Kleinere piepte, wirbelte das größere Küken herum und hieb mit dem Schnabel nach ihm. Jedes Mal wurde das Kleine ein Stück weiter aus dem schützenden Nest gedrängt, aber die Eltern schien das nicht aus der Ruhe zu bringen. Die Mutter ließ den Krill aus ihrem gebogenen Schnabel fallen, und während das kleinere Küken verzweifelt zusah, packte sein Geschwister den Brocken und schlang ihn im ganzen Stück herunter.
    Kommt schon, teilt es euch, und zwar gerecht
! Aber Michael wusste, dass solche Regeln hier nicht galten. Wenn das Kleine sich nicht allein durchschlagen konnte, würden seine Eltern es einfach verhungern lassen. Das Überleben des Stärkeren, ganz ungeschönt.
    Das kleine Küken unternahm einen letzten Versuch, um ins
Nest zurückzukehren, doch das größere schlug mit den Flügeln und hackte erneut nach ihm. Mit gesenktem Kopf zog sich das Kleine zurück, die grauen Flügel eng an den Körper gepresst. Mama und Papa starrten teilnahmslos in die andere Richtung.
    Michael ergriff die Gelegenheit. Er trat vor, und ehe das Küken, das noch nicht einmal flügge war, davonhüpfen konnte, bückte er sich und hob es mit seinen Fausthandschuhen auf. Nur der weiße Kopf mit den schwarzen Knopfaugen lugte noch hervor. Der Möwenvater kreischte auf, aber nicht, wie Michael wusste, weil er das Küken entführte, sondern weil er dem Nest und dem fetten Erben zu nahe gekommen war.
    »Verloren«, sagte Michael und hielt das Küken eng an seine Brust. Dann drehte er sich um, bis er den Wind im Rücken spürte, und ließ sich von ihm halb den Hang hoch und zur Wärme des Gemeinschaftsraumes wehen. Welchen Namen, fragte er sich, hätte Kristin wohl diesem kleinen Findelkind in seinen Händen gegeben?

13 . Kapitel 6 .Juli 1854 , 16 : 30 Uhr
    Ascot. Für Eleanor war es stets nur ein Wort gewesen, der Name eines Ortes, den sie niemals zu Gesicht bekäme. Nicht bei ihrem mageren Lohn, und gewiss nicht ohne Begleitung.
    Und doch war sie jetzt hier und lehnte sich an das hölzerne Geländer, während die Pferde vom Sattelplatz zum Start geführt wurden, die schönsten, die sie je gesehen hatte, mit glänzendem Fell, farbenprächtigen Decken unter den Sätteln und weißen Bandagen um die Fesseln. Um sie herum und in dem großen Pavillon über ihr befanden sich Tausende von Menschen, mehr als sie je zuvor an einem Ort gesehen hatte. Alle riefen und liefen umher, schwenkten Rennkalender und räsonierten laut über die anwesenden Ladys und Gentlemen, die Jockeys und die schlammigen Wege. Männer tranken aus Flachmännern und pafften Zigarren, während die Damen, von denen manche, wie Eleanor fand, von zweifelhaftem Äußerem waren, umherschlenderten, ihre Gewänder zeigten und rosa oder gelbe Sonnenschirme drehten. Es wurde gelacht und geschwatzt und einander auf den Rücken geschlagen, und alles in allem war es die heiterste und lauteste Gesellschaft, an der sie je teilgenommen hatte.
    Sie spürte Sinclairs Blick auf sich, kurz bevor er

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