Eisiges Blut
Es könnte auch ihr Mantel sein, oder vielleicht auch nur eine Art Schatten oder eine Verunreinigung des Eises. Wir haben sicherheitshalber viel
Eis drangelassen, aber sobald Tina und Betty das überflüssige Eis abgeschlagen haben, sind wir schlauer.«
Hinter Charlotte sah Michael eine heftig winkende Hand. Er lehnte sich zur Seite und sah Darryl mit einem Tablett in der Hand sich einen Weg durch den Raum bahnen. Er ließ sich auf den Stuhl neben Charlotte fallen und sagte mit verschwörerischem Ton zu Michael: »Gratuliere! Ich habe gerade Dornröschen im Eiskernlager besucht. Sie schläft immer noch tief und fest.«
Michael empfand ein vages Unbehagen, nicht nur wegen Darryls Flapsigkeit, sondern wegen der Bemerkung, sie würde nur schlafen. Er konnte nicht vergessen, dass Kristins Eltern glaubten, sie würde ebenfalls nur schlafen.
»Wisst ihr was?«, sagte Darryl, während er eine ganze Schale geriebenen Parmesan über seine Spaghetti streute. »Sobald Betty und Tina den Block so weit wie möglich zurechtgeschnitten haben, wäre es das Beste, ihn ins meeresbiologische Labor zu schaffen.« Er sagte das so beiläufig, dass Michael wusste, dass er lange und gründlich darüber nachgedacht hatte.
»Warum?«
Darryl zuckte die Achseln, wieder viel zu lässig. »Sie muss langsam auftauen, und am besten im hiesigen Meerwasser. Andernfalls könnte die Leiche beschädigt werden, oder sie fällt womöglich auseinander. Ich könnte das große Aquarium leeren, die Dorsche sind ja nicht einmal mein Experiment, und die Unterteilungen rausnehmen. Dann könnten wir den Eisblock, oder was davon übrig bleibt, als Ganzes in ein Kältebad legen. Wir könnten sie ganz langsam unter kontrollierten Laborbedingungen auftauen lassen.«
Michael sah Charlotte an, weil er ihre Expertenmeinung hören wollte. Immerhin war sie Ärztin, aber jetzt schien sie ebenso ratlos zu sein wie er. »Wieso fragst du mich?«, sagte er schließlich. »Hat das nicht allein Murphy O'Connor zu entscheiden?«
»Er leitet nur die Station«, erwiderte Darryl, »und versucht
sich im Allgemeinen aus allen wissenschaftlichen Angelegenheiten herauszuhalten. Ob es dir gefällt oder nicht«, fügte er hinzu und hielt eine Gabel mit Spaghetti in die Höhe, »in diesem Fall bist du der Märchenprinz. Was meinst du, wie wir sie zurückholen sollten? Mit einem Kuss?«
Es fiel Michael schwer, sich in diesem Szenario, oder in irgendeinem anderen, als Märchenprinz zu sehen. Aber allmählich kam er wirklich zu dem Schluss, dass er, wenn jemand Dornröschens Interessen vertreten sollte, welche immer das sein mochten, das ebenso gut selbst übernehmen konnte.
»Wenn du das für das Beste hältst«, sagte Michael, »dann schließe ich mich dir an.«
Darryl machte ein erfreutes Gesicht, wobei ihm ein Stück Spaghetti an der Lippe klebte. »Gute Entscheidung«, sagte er und saugte die Nudel auf. »Insbesondere in Hinblick auf das, was ich euch beiden nach dem Essen zeigen muss.«
Michael und Charlotte tauschten einen Blick.
»Bisher habe ich noch niemandem davon erzählt«, fügte er hinzu, »und ich bin mir nicht sicher, ob ich noch jemanden einweihe. Wir werden sehen.«
Gespannt auf das Geheimnis, mussten Michael und Charlotte warten, bis Darryl seine Mahlzeit beendet hatte. Michael überbrückte die Zeit mit etwas Kirschkompott, während Charlotte ihrem Nachtisch noch einen koffeinfreien Cappuccino folgen ließ. »Wenn das sechs Monate so weitergeht«, sagte sie und streute Zucker in ihre Tasse, »müssen sie eine Frachtmaschine schicken, um meinen fetten Arsch wieder in die Zivilisation zurückzuschaffen.«
Später, im meeresbiologischen Labor, lief Darryl eilig herum, um alles vorzubereiten, während Charlotte und Michael ihre Parkas und Handschuhe auszogen. Selbst für den kurzen Weg von einem Gebäude zum anderen musste man sich gegen die Kälte schützen;
dreißig Sekunden ungeschützt da draußen, und die Haut bekam erste Frostschäden.
Darryl zog zwei weitere Stühle an den Arbeitstisch, auf dem ein Mikroskop mit Doppelokular und ein Videomonitor standen. »Eins muss man der National Science Foundation lassen«, sagte er. »Die sind nicht knauserig. Dieses Mikroskop zum Beispiel ist ein Olympus CX mit Glasfasertechnik, und der Monitor hat eine extrem hohe Auflösung.« Er betrachtete das Gerät mit echter Begeisterung. »Ich wünschte, ich hätte so was zu Hause.«
Charlotte, die ein Gähnen kaum unterdrücken konnte, wechselte erneut einen Blick mit
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