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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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dessen Rang nicht erkannte, überließ ihm auf der Stelle das Fernrohr, das er bei sich trug, und eilte weiter, um seinen Pflichten nachzukommen.
Rutherford hob das Teleskop und suchte die Menge ab, vom Anfang der High Street bis hinunter zu den Laderampen. Die Luft war erfüllt vom nicht enden wollenden Stampfen der Soldatenstiefel, dem Wiehern und Schnauben der Pferde. Die Militärkapelle spielte die Hymne von Inniskilling, und die unsteten Töne wurden vom wirbelnden Wind aufs Meer hinausgetragen. Ein Befehl wurde erteilt und mehrmals an Deck weitergegeben, bis ein Dutzend Matrosen begann, jene Nachzügler zusammenzutreiben, die noch hastig letzte Umarmungen und Andenken mit Familienangehörigen und Gratulanten tauschten. Schließlich wurden die schweren Rampen abgeschottet und an Bord der Schiffe gehievt. Hafenarbeiter lösten die dicken Ankertaue und warfen sie ins Hafenbecken. Rutherfords Suche war offensichtlich erfolglos geblieben.
    »Ich werde ein ernstes Wort mit Florence Nightingale zu reden haben, wenn ich sie das nächste Mal treffe«, erklärte Rutherford beleidigt.
    »Lass es mich noch einmal versuchen«, sagte Sinclair und nahm das Fernrohr in die Hand. Das Erste, was er sah, war das Hinterteil eines Pferdes, zufälligerweise auch noch von Lord Cardigans Ross, das auf dem Weg zurück in die Stadt war. Der feine Herr, so ging die Rede, würde den Truppen später nachfolgen, in dem komfortableren Quartier eines französischen Dampfschiffes.
    Doch Sinclair hatte nicht mehr Glück als Rutherford. Einmal meinte er, Frenchies Liebchen Dolly zu sehen, aber bei der Größe des Hutes war es nur schwer zu erkennen. Frenchie selbst war in dem Gedränge von seinen Freunden getrennt worden und steckte vermutlich irgendwo auf dem überfüllten Deck der
Henry Wilson
fest. Sinclair erspähte einen kleinen Jungen, der die Hand seiner Mutter hielt und tapfer lächelte, und einen anderen, der unbedingt einen verletzten Spatz fangen wollte, der zwischen den Rädern des Proviantwagens umherhüpfte.
    Weitere Befehle wurden gerufen, und ein Dutzend Matrosen
erklomm die Takelage und löste die Segel, die sich mit lautem Knattern entfalteten. Das Schiff ächzte und stöhnte, als würde ein großer steifer Riese langsam zu Leben erwachen. Zwischen dem Boot und dem Kai tauchte ein schmaler Streifen Brackwasser auf. Sinclair schwang das Fernrohr vom einen Ende des Hafens zum anderen, hielt einmal bei einem gelben Sonnenschirm inne, und dann noch einmal. Doch diesmal entpuppte es sich als ein gelber Anschlag, auf dem eine Vorstellung in der Drury Lane angepriesen wurde.
    »Ich frage mich, wann wir unseren ersten Kampf erleben werden«, sagte Rutherford. »Ich hoffe, es wird kein Geplänkel, mit wenig Platz und ohne Gelegenheit, die Lanze richtig zum Einsatz zu bringen.« Die Lanze galt als rechte Neuheit und war, ebenso wie ihre Uniformen, der Waffe der Polnischen Ulanen nachempfunden, die sich in Waterloo so ruhmreich hervorgetan hatten.
    Sinclair murmelte seine Zustimmung, während er mit der Suche fortfuhr. Das Schlingern und Schaukeln des Schiffes machte es schwierig, das Fernrohr ruhig zu halten, und er wollte gerade aufgeben, als er einen offenen Wagen durch eine Seitengasse rollen sah. Am Ende der Gasse sprangen zwei Frauen, die eine im gelben Kleid, die andere mit weißer Schürze, vom Wagen und rannten auf den Kai zu. Mit einer Hand hielt er sich an der Reling fest, mit der anderen verfolgte er die laufenden Mädchen mit dem Fernrohr. Die vordere der beiden war Eleanor, die ihre Schwesternhaube festhielt. Moira, die ihren Rock über ihre Knöchel gerafft hatte, eilte ihr nach.
    Inzwischen hatte sich die
Henry Wilson
mehr als hundert Meter vom Kai entfernt und die Flagge am Heck verdeckte die Aussicht. Gleichwohl bemerkte Sinclair, dass die Blicke und Schritte der Mädchen auf eines der anderen auslaufenden Schiffe gerichtet waren. Eleanor stoppte bei einem Mann in Uniform, und nach ein paar hastigen Worten nahm sie Moira am Arm und wandte
sich dem Kai zu, von dem gerade das Schiff mit dem 17 . Lancer-Regiment abgelegt hatte.
    Der Union Jack flatterte knallend in der aufkommenden Meeresbrise, und Sinclair rief Rutherford zu: »Sie sind da! Sie kommen zum Kai!«
    Rutherford verrenkte sich den Hals, während Sinclair sich das Fernrohr unter den Arm klemmte und mit weiten, ausholenden Bewegungen winkte.
    Noch mehr Segel fielen kaskadengleich vom Toppmast herunter. Das Schiff machte einen Satz nach vorn und gewann an Fahrt.

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