Eisiges Blut
Das Land lag hinter ihnen, und bald waren die Menschen im Hafen nur noch kleine Punkte.
Ein letztes Mal hob Sinclair das Fernrohr, fand ein letztes Mal den kleinen hellgelben Fleck. Er beschwor sie im Geiste, in seine Richtung zu schauen, doch aus irgendeinem Grund schien sie auf die sich blähenden Segel zu blicken. Aber gerade, als das Schiff in die erste Welle hinter dem Hafendamm tauchte und sich die kühle Gischt über alle an Deck ergoss, glaubte er zu erkennen, dass sie sich tatsächlich umdrehte und den Blick ihrer grünen Augen auf ihn richtete. Zumindest wollte er, dass es so war.
Die folgenden Wochen wurden die elendesten in Sinclairs jungem Leben. Er war des Ruhmes wegen der Armee beigetreten, und, um der Ehrlichkeit Genüge zu tun, um in der flotten Uniform eines Kavalleristen in der Stadt umherstolzieren zu können. Jetzt jedoch war er in den stinkenden Eingeweiden eines überfüllten Schiffes eingeschlossen und aß kaltes Pökelfleisch und mehligen Zwieback, von dem, sobald man alle Käfer herausgepickt hatte, nichts weiter übrig blieb als eine Handvoll Krumen. Die Nächte verbrachte er in einem erbärmlichen, düsteren Laderaum und kämpfte darum, sein panisches Pferd am Leben zu halten. Sehnsüchtig dachte er an sein Londoner Leben zurück, an die Kartenspiele, die Hundekämpfe und die Abende im Salon d’Aphrodite.
Dass er Fitzroy aus dem Fenster geworfen hatte, war Stoff für eine Regimentslegende. Als der Schiffssteward ihm seine mitleiderregende tägliche Ration Rum servierte, dachte er an den feinen Port im Longchamps Club und an kühlen Champagner. Als ihn der Erste Maat, mit anderen Worten ein einfacher Bürger, rügte, weil er unter Deck eine Zigarre rauchte, dachte Sinclair an den prachtvollen Humidor, den sie in der Kaserne gehabt hatten. Nur allzu gern hätte er die Reitpeitsche gezückt und bei diesem Kerl zur Anwendung gebracht. Wie konnte er es wagen, auf diese Weise mit ihm zu reden! Obwohl er sich gelegentlich über die unzähligen Regeln und Befehle ärgerte, hatte die Armee ihm bislang gute Dienste erwiesen, doch mit jeder Stunde an Bord dieses dreckigen, stampfenden Schiffes veränderte sich etwas in ihm. In seinem Inneren verspürte er einen wachsenden Groll, er fühlte sich getäuscht und in die Irre geführt.
Seine Freunde, so stellte er fest, waren ebenfalls entmutigt. Frenchie, der stets der Erste gewesen war, wenn es darum ging, ein Lied anzustimmen oder eine Posse zu reißen, lag in seiner Hängematte, grün wie ein Kricketrasen, und hielt sich den Bauch. Rutherford, der für gewöhnlich laut polternd seine Meinung zum Besten gab, sprach mit weniger Überzeugung, wenn er überhaupt etwas sagte. Viele andere, wie Winslow, Martins, Cartwright oder Mills, schlichen mit aschfahlen Gesichtern und verschmutzter Kleidung wie Gespenster über das Schiff. Wenngleich die Luft an Deck ungleich frischer war, so war man dort dem ständigen Anblick toter Pferde ausgesetzt, die zum Schanddeck gezerrt und wie Unrat in die wogende See geworfen wurden. Je länger die Reise dauerte, desto mehr Männer ereilte dasselbe Schicksal, nachdem sie an der Ruhr oder einer anderen Krankheit gestorben waren. Jetzt, wo er es so hautnah erlebte, konnte Sinclair noch weniger begreifen, wie man eine Karriere bei der Marine Ihrer Majestät anstreben konnte.
Der Einzige, dem all das nichts auszumachen schien, war Sergeant
Hatch, der Inder, der von den ranghöheren Offizieren verachtet wurde. Sinclair wusste, dass es ihn in ein schlechtes Licht rückte, wenn er sich mit diesem Mann verbrüderte. Rutherford war sogar so weit gegangen, ihn zu warnen, seine Freundschaft nicht zu offen zu zeigen. Sinclair hingegen stellte fest, dass Hatchs Gesellschaft ihm einen gewissen Halt gab. Schon vor langer Zeit hatte Hatch sein Los akzeptiert, was seine Stellung sowohl in der Armee als auch im Leben anging. Er wusste, was man über ihn dachte, was von ihm erwartet wurde und wie er seine Aufgaben anpacken musste. Da er sich ihrer jeweiligen Stellungen völlig bewusst war, suchte er Sinclair nicht auf, schien aber auf seine eigene zurückhaltende Art immer erfreut zu sein, wenn sie sich begegneten. Zumal sie beide große Bewunderer von Captain Lewis Edward Nolan waren, dessen Theorien zur Ausbildung von Pferden in letzter Zeit allgemeine Zustimmung fanden. Was lange Zeit mit Peitsche und Sporen erreicht worden war, bewerkstelligte Nolan mit einem freundlichen Wort, einer beruhigenden Geste und ein, zwei Stückchen
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