Eisiges Feuer (German Edition)
verbundenen Augen hinter sich gebracht hatte, während er benommen vor Schmerz und Angst bäuchlings über einem Pferd gehangen hatte und Robans Schimpftiraden lauschen musste.
Ich wünschte, du wärst hier, Bruder!
Langsam trieb er den Weißen in den Wald hinein. Seine Hoffnung, bereits hier auf Mitglieder der Bande zu stoßen, erfüllte sich nicht. Und eigentlich fürchtete er sich auch mehr davor, denn die schlimmste Prüfung lag am Ende des Weges …
„Herr, es macht mir Angst, nichts zu sehen!“, sagte Anniz leise.
„Ganz ruhig. Versuch ein wenig zu schlafen, es wird noch Stunden dauern, bevor wir das Ziel erreichen.“
Folgsam lehnte sie sich gegen seine Schulter, wie so oft während der letzten Tage. Lys blickte auf sie herab, überrascht, wie vertraut sie ihm geworden war. Diese kleine, dralle Frau mit ihren honigblonden Zöpfen, der sonnenverbrannten Haut, die immer nach Milch und dem Kräutertee roch, den sie bei jeder Gelegenheit trank, sie war eine weitaus angenehmere Gesellschaft als Elyne. Ihm wurde bewusst, dass er seit Tagen nicht mehr an seine Gemahlin gedacht hatte, dieses komplizierte Geschöpf, das immer nur jammerte oder Gift versprühte. Elyne war schön, gewiss, ihre milchweiße Haut, das zarte, ebenmäßige Gesicht, alles an ihr erfreute das Auge. Doch ansonsten … Zwar konnte man mit Anniz keine tiefgründigen Gespräche führen, sie besaß keinen Funken Bildung und ihr Denken kreiste um einfache Dinge wie Essen, Schlaf und die Versorgung des Kindes. Und trotzdem, in ihrer Nähe fühlte Lys sich geborgen, als wäre sie auch seine Mutter, und nicht nur die Amme seines Sohnes.
Himmel, das Kind braucht einen Namen. Sonst bleibt er noch für den Rest seines Lebens nur „Sohn“, und dann? Und jetzt konzentrier dich, Lys. Wie war das? Erinnere dich. Lange Zeit nur geradeaus, immer geradeaus, bis wir an einen Bach kamen. Es war flaches Wasser, ich habe nur einige Spritzer abbekommen.
Lys schloss die Augen und ließ den Weißen den Weg alleine wählen, solange er dabei geradeaus lief. Ihm war bewusst, dass die Räuber möglicherweise einen sanften Bogen geschlagen hatten, den er nicht gespürt hatte. Doch er musste es versuchen, es war die einzige Möglichkeit, Anniz und das Kind in Sicherheit zu bringen!
Mit aller Macht versenkte er sich in die Vergangenheit, in jenen Tag hinein. Er hatte sich mit ebenso viel Kraft an diesem Tag bemüht, jede einzelne Bewegung des Pferdes in sich aufzunehmen, sich jedes Vogelzwitschern, die Sonne auf seinem Rücken, einfach alles zu merken. Dieses Spiel hatte er als Kind oft mit Roban getrieben. Der hatte ihm immer wieder die Augen verbunden und ihn irgendwohin geführt, dort etwas versteckt, was Lys lieb und teuer war, und ihn dann wieder nach Hause gebracht. Auf diese Weise verlor Lys zahllose Kostbarkeiten, etwa sein erstes Holzschwert, eine Perle, die ihm seine Mutter gab, als er sie so bewunderte, seine Soldatenfiguren, die Roban für ihn geschnitzt hatte, und vieles mehr. Doch er meisterte rasch die Kunst, sich auf andere Sinne als seine Augen zu verlassen und irgendwann gelang es ihm, nicht nur alles zu finden, was Roban versteckte, sondern auch die meisten verlorenen Schätze zu bergen. Ihr Vater wusste nichts von diesem Spiel, er hätte einiges dagegen gehabt, einen kleinen Jungen von kaum sieben Jahren allein durch den Wald laufen zu lassen. Es endete abrupt, als ihre Mutter starb, doch Lys war sich sicher, dass er diese Kunst nicht völlig verlernt hatte.
Das leise Murmeln von Wasser begrüßte ihn, Lys entspannte sich etwas. Es war leicht, die Senke zu finden, die von den Räubern benutzt wurde, hier fanden sich zahlreiche Fußspuren. Eine Weile konnte Lys dieser Fährte folgen, doch dann wurde der Boden wieder trocken, und keine Spuren verblieben, die er hätte erkennen können. Er war nur selten auf die Jagd gegangen, er wusste nichts darüber, wie man aus winzigen Zeichen herauslas, wohin die Beute sich gewandt hatte. Also schloss er wieder die Augen und sank zurück in die Erinnerung.
Hügel. Sanfte Steigungen und Senken, mehr Unebenheiten als alles andere. Der Duft von Nadelbäumen und weicher Boden, der die Tritte der Pferde dämpfte.
Und da war es auch schon, hohe Kiefern und Fichten beherrschten diesen Teil des Waldes, das Gelände stieg leicht an. Lys trieb das Pferd über die Bodenwellen und offenen Wurzeln und folgte so dem Weg aus der Erinnerung: den Abstieg in tieferes Gelände, vorbei an Holunder- und Brombeerbüschen. Nach
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