Eisiges Herz
er Medikamente in zu großen Mengen verschrieb. Dorothy hatte er erklärt, er habe lediglich einem depressiven Patienten ein trizyklisches Antidepressivum verschrieben, was nichts Außergewöhnliches war, aber der Patient habe gleichzeitig eine ganze Packung Schlaftabletten geschluckt, die er ihm ebenfalls verschrieben hatte. Die Hinterbliebenen behaupteten, Dr. Bell habe eindeutige Hilferufe überhört und es versäumt, den Jungen in eine Klinik einzuweisen. Die Untersuchungskommission des Krankenhauses kam lediglich zu dem Schluss, Dr. Bell sei in Bezug auf die Nachsorge zu nachlässig gewesen, und erteilte ihm einen Verweis. Dennoch hatte es ihn vollkommen aufgebracht.
»Diese Idioten!«, hatte er geschrien. »Diese Schwachköpfe! Die haben doch überhaupt keine Ahnung. Leute mit Depressionen nehmen sich in Scharen das Leben. Der Junge hätte sich wahrscheinlich schon vor Monaten umgebracht, wenn ich nicht gewesen wäre. Suizid ist bei manisch-depressiven Patienten an der Tagesordnung. Es ist völlig normal, dass die ihre Absichten geheimhalten. Darin sind die richtig gewieft. Wenn man mir vorwirft, dass ich nicht in der Lage war, seine Gedanken zu lesen, bitte sehr. Ich bekenne mich schuldig.«
Die Gedanken seiner Patienten zu lesen war eigentlich die Aufgabe eines Psychiaters, hatte Dorothy damals gedacht. Aber Frederick war ihr Mann, und sie hatte zu ihm gestanden und seine Empörung geteilt. Und dafür war Frederick ihr so dankbar gewesen, dass der Konflikt mit der Klinik ihre Ehe gestärkt hatte.
Trotz des unerfreulichen Vorfalls hatte Frederick schon bald eine neue Stelle gefunden, diesmal in Lancashire, am Manchester Centre for Mental Health. Dort gefiel es ihm wesentlich besser. Die Eheleute engagierten sich in der Gemeinde, fanden Freunde, gaben Partys. Doch als Dorothy das Gefühl hatte, sich richtig eingelebt zu haben, als sie sich sicher und aufgehoben fühlte, teilte die Klinik ihnen mit, dass erneut ein Ermittlungsverfahren gegen Dr. Bell eingeleitet worden war, diesmal wegen der alarmierend hohen Suizidfälle unter Dr. Bells Patienten.
Die Untersuchung dauerte nur kurz, und Dr. Bell wurde von jeglicher Schuld freigesprochen. Seine Verschreibungsmethoden konnten nicht als außergewöhnlich bezeichnet werden. Im Gegenteil, es stellte sich sogar heraus, dass er weniger Medikamente verschrieb als seine Kollegen.
»Meiner Meinung nach verschreiben wir zu viele Medikamente«, erklärte er gegenüber der Untersuchungskommission. »Ich bin davon überzeugt, dass eine Kombination aus Psychotherapie und Medikamenten die optimale Behandlung bei Depressionen darstellt. Weder das eine noch das andere für sich allein ist ausreichend, zumindest nicht in schweren Fällen, aber sich ausschließlich auf Medikamente zu verlassen ist riskant, denn in diesem Fall wird das Tempo der Behandlung durch das Medikament vorgegeben und nicht durch die Möglichkeiten des Patienten, den Heilungsprozess zu verkraften.«
In diesem Punkt war er seiner Zeit voraus, und was dasErkennen der Ursachen und die Behandlung von manischer Depression anging, galt er inzwischen in England als eine Koryphäe. Er behandelte eine unglaublich große Anzahl von Patienten und hatte sich fast ausschließlich auf manische Depressionen spezialisiert, was, so die Kommission, die außergewöhnlich hohe Suizidrate unter seinen Patienten erklärte.
Trotzdem fühlte Frederick sich durch das Debakel persönlich gekränkt. »Was für eine Beleidigung, was für eine Undankbarkeit«, sagte er immer wieder. »Und was für eine unglaubliche Dummheit. Da müssen sie erst eine Kommission einsetzen, nur um zu erkennen, was auf der Hand liegt, nämlich dass depressive Menschen dazu neigen, sich umzubringen.«
Kurz darauf war das Ehepaar ausgewandert. Obwohl die Kommission ihren Mann von allen Vorwürfen freigesprochen hatte, war Dorothys Vertrauen in Fredericks Fähigkeiten erschüttert. Sie kannte sich mit Klinikpolitik aus und wusste, dass die Verwaltung durchaus willens und in der Lage war, einen Skandal zu vertuschen. Als sie beim Packen einen Brief vom National Health Service entdeckte, in dem eine weitere Untersuchung angekündigt wurde – diesmal sollte Fredericks gesamte Zeit als praktizierender Psychiater sowohl in Swindon als auch in Manchester unter die Lupe genommen werden –, war sie zutiefst schockiert.
Der Brief war kurz nach der Untersuchung in Manchester eingetroffen, aber Frederick hatte ihr kein Wort davon erzählt.
Und sie brachte es
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